Dich schlafen sehen
einfach die Tür zu und warf mich aufs Bett. Ich weinte nicht. Ich erwartete, dass Sarah als Erste zu mir kam, ich lauerte auf den Moment, wo die Tür aufging und ihr Gesicht erschien. Diesen Augenblick fürchtete ich mehr als die Schläge meines Vaters und das Geschrei meiner Mutter.
Ich hörte sie leise kommen. Ich spürte, wie sie sich neben mich aufs Bett setzte. Ich hatte das Gesicht in den Händen vergraben und die Augen geschlossen. Mehrere Minuten lang sagten wir nichts. Oder vielmehr, sagte sie nichts. Sie wusste, dass ich nichts sagen würde. Ich konnte nicht, sie musste den Anfang machen. Auf einmal brach ihre Stimme das Schweigen.
Ich weiß nicht mehr genau, was sie sagte. Mit Sicherheit machte sie mir Vorwürfe. Die Tränen nahmen mir den Atem. Ich hörte, wie sie immer wieder sagte: »Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche!«
Sie verstand nicht, dass ich nicht konnte. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, ich war zu feige. Ich konnte ihr nur zuhören, ohne etwas zu sagen, wie gelähmt vor Angst und Scham: »Charlène, sieh doch nur, was aus dir geworden ist! Es ist dir egal, mit wem du die Zeit totschlägst, du treibst dich mit Spinnern herum, und jetzt nimmst du auch noch Drogen... Was ist nur in dich gefahren? Macht es dir Spaß, dich zu Grunde zu richten? Gefällt es dir, wenn du anderen Kummer bereitest? Ich weiß nicht, was mit dir los ist, Charlie. Seit die Schule wieder angefangen hat, baust du nur Mist. Und das hat schon vorher angefangen. Du hast es nicht einmal für nötig befunden, mich in den Ferien anzurufen oder dich nach mir zu erkundigen, und am ersten Schultag hast du mich wie Luft behandelt. Das hätte ich nicht von dir gedacht. Du enttäuschst mich sehr. Nach allem, was ich für dich getan habe! Wer war es denn, der dich nach deinem so genannten Selbstmordversuch im Krankenhaus besucht hat? Wer hat dir wieder auf die Beine geholfen? Ich,
deine beste Freundin
, und jetzt das! Ich dachte, du hättest kapiert. Aber du beweist mir das Gegenteil. Seit dem ersten Schultag gehst du mir aus dem Weg. Du legst es förmlich auf Ärger an, und ich soll dir dann wieder aus der Patsche helfen. Was soll ich tun, Charlène, kannst du mir das sagen?«
Jedes Wort, das sie sagte, jede Betonung, jedes Vibrieren ihrer Stimme hallte in meiner Brust wider. Ihr ganzes Wesen durchdrang mich. Ich zitterte. Mein Hals verkrampfte sich, ich erstickte. Aus Sucht nach Leiden. Ich hatte Sarah enttäuscht, sie war mir böse und verachtete mich, also war ich ihrer nicht mehr würdig. Ich war verloren.
Wie gern hätte ich ihr alles aus meiner Sicht erklärt, ihr gesagt, wie schlecht es mir ging und dass auch sie Schuld hatte, dass sie mich ohne Mitleid hatte fallen lassen, doch ich konnte nicht. Die Worte blieben mir im Hals stecken, und das tat weh. In diesem Augenblick zählten nur die Fehler, die ich begangen hatte. Ich hatte allen Unrecht zugefügt. Und dafür musste ich büßen. Ich verabscheute mich. Am schlimmsten war die Scham. Die Ohnmacht. Sarah ließ mir keine Wahl, ich konnte mich gegen ihre erdrückende Autorität nicht wehren. Was sie sagte, konnte im Grunde genommen nur die Wahrheit sein: Ich taugte nichts. Ich hatte nur noch die Kraft, sie um Verzeihung zu bitten, ihr zu sagen, dass ich wieder ihre beste Freundin werden wollte, wie früher. Ich versprach ihr, ich schwor ihr, dass ich nicht wieder von vorn anfangen würde – nie wieder. Keine Ausraster mehr, keinen schlechten Umgang mehr, keine kindischen Spinnereien mehr. Ich flehte sie an, mir eine letzte Chance zu geben. Ich hätte mein Leben für ihre Freundschaft hingegeben. Wenn sie mir nur wieder das Gefühl gab, dass ich ein Recht darauf hatte, jemand zu sein.
Und sie gab mir noch eine Chance: Sie sah großzügig über alles hinweg.
Von diesem Augenblick an lag mein Leben in ihrer Hand.
Danach war nichts mehr wie zuvor.
Alles entglitt mir. Mein Leben rieselte mir wie Sand durch die Finger. Ich lebte weiter, ohne Ziel, ohne Halt, ins Leere hinein: Ich ließ mich einfach von einer Stimme leiten, einer einzigen, der von Sarah. Die Angst, sie noch einmal zu verlieren, mich abermals ihrer nicht würdig zu erweisen, quälte mich so, dass ich mich nur darauf beschränkte, ihr zu gehören. Mich ihr mit Leib und Seele zu verschreiben.
Damit ich so wurde, wie sie mich haben wollte, hatte Sarah einen absolut teuflischen Plan ersonnen. Sie ignorierte mich. Sie entzog mir die Blicke, das Lächeln, die Komplimente, die mir früher so viel
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