Dich schlafen sehen
wecken, so wie ich früher. Ihr Leben war toll. Ich war eine Jugendliche ohne Ziel und ohne Halt. Sie lebte im Licht. Ich verblich im Schatten.
In Wahrheit hätte ich mein Leben gegeben, um sie wieder ganz für mich allein zu haben. Ohne sie war der Alltag für mich die reine Hölle. Ich spürte wieder den Kloß im Hals, der mir die Luft nahm. Vielleicht, so überlegte ich, würde mir Sarah zu Hilfe kommen, wenn ich mir wieder etwas antat, wie im letzten Winter. Vielleicht würde unsere Freundschaft wieder aufleben, als wären wir uns niemals gleichgültig gewesen. Denn die Erinnerung an unsere gemeinsamen Tage und Nächte quälte mich. Das Spiel, das sie mit mir trieb, zehrte an mir. Jeden Morgen, wenn ich aufstand, spürte ich das Gewicht der ganzen Welt auf meinen Schultern und fragte mich, wo ich den Mut zum Weitermachen hernehmen sollte. Ich wollte gar nicht gewinnen. Ich musste nur durchhalten, bis sie auf mich zukam, denn ich selbst war nicht in der Lage, den ersten Schritt zu tun. Ich war von Sarah regelrecht besessen. Sie hatte sich in mein Leben gedrängt und mir dann alles genommen, meine Vergangenheit, meine ganze Würde, meine Freiheit. Langsam hatte sie die Oberhand gewonnen. Alles, was nicht sie war, hatte keine Substanz.
Ich konnte nichts mehr dagegen tun, sie siegte weiter. Ich hatte keine Kraft und keine Hoffnung mehr, ich musste sterben.
Eines Tages bin ich ausgerissen. Natürlich plante ich, nach ein paar Stunden, sobald ich mich beruhigt hatte, zurückzukehren. Ich wollte meinen Eltern nur einen gehörigen Schrecken einjagen. Es war um den Oktober herum, und ich weiß noch, dass es kalt war. Es war bereits dunkel, und ich ging allein die Straße entlang, dem Horizont entgegen, ohne festes Ziel. Ich hatte mich mit meinen Eltern gestritten wie noch nie, nachdem sie in meinem Zimmer angebrochene Zigarettenschachteln und ein paar Gramm Cannabis entdeckt hatten. Ich hatte geschrien und alles, was mir in die Finger kam, an die Wand geworfen. Ich schrie meinen Schmerz hinaus. Ich brüllte meine Empörung hinaus. Ich machte meinem Herzen Luft, sprach über früher. Ich warf ihnen ihre häufige Abwesenheit vor, ihre Blindheit. Ich wusste nicht mehr, was ich sagte, klärte sie darüber auf, dass der Unfall vom letzten Jahr gar kein Unfall gewesen war, und gab ihnen an allem die Schuld. Sie sahen mich ungerührt an. Sie glaubten mir kein Wort.
Unter ihren skeptischen Blicken packte ich meine Tasche, wartete, bis sie die Tür meines Zimmers hinter sich zugeknallt hatten, und machte mich dann durchs Fenster davon. Ich fror. Damit mir wärmer wurde, rauchte ich die letzten Zigaretten aus meiner Schachtel. Ich ging weiter, ohne zu weinen, ruhig, aber zitternd, einfach dem Horizont entgegen. Ich sah die weißen und gelben Scheinwerfer der Autos vorbeihuschen, dann in der Nacht verschwinden. Ich ging immer weiter. Ich hatte keine Angst.
Ein Wagen hielt am Straßenrand. Ich dachte mir, er könnte mich mitnehmen und irgendwohin bringen, egal wohin. Ohne eine Sekunde zu überlegen, stieg ich ein. Ich stellte meine Tasche ab. Ich setzte mich hin, und als ich mich angeschnallt hatte und der Wagen anfuhr, war es zu spät zum Weglaufen. Ich hob den Kopf. Sarahs Mutter saß am Steuer, und hinten auf dem Rücksitz Sarah. Ich war jämmerlich gescheitert, wieder einmal.
Also begann ich zu weinen.
Ich sprach kein Wort, die beiden auch nicht. Ich wartete. Der kleine schwarze Peugeot 106 hielt vor unserem Haus. Meine Mutter stand vor dem Eingang, reglos, in ein Schultertuch gewickelt. Ich saß in der Falle. Ich ging mit gesenktem Kopf zu ihr, ich schämte mich. Ich blieb vor ihr stehen. Ich wusste, dass sie mir keine Ohrfeige geben würde; wahrscheinlich würde das mein Vater nach seiner Rückkehr besorgen. Maman sagte nichts. Ich blieb vor ihr stehen, spürte ihren Blick, konnte ihr aber nicht in die Augen sehen. Sarah und ihre Mutter standen daneben, ohne etwas zu sagen. Ihr Schweigen war schlimmer als alles andere. Irgendwie wusste ich, dass Sarah sich schon darauf freute, mich zu demütigen. »Schön, das war's, du kannst dich jetzt als Siegerin betrachten«, dachte ich in diesem Augenblick.
Als ich begriff, dass meine Mutter nichts sagen würde und von mir den ersten Schritt erwartete, stürzte ich ohne ein Wort ins Haus, denn ich hielt das bedrückende Schweigen nicht mehr aus. Ich rannte in unsere Wohnung hinauf und in mein Zimmer. Ich wollte mich einschließen, doch der Schlüssel war abgezogen. Also machte ich
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