Dichterliebe: Roman (German Edition)
nachhinein frage ich mich, warum das eigentlich so eilig war.
Das Schneehaus habe ich ab Mitte der Siebziger zehn Jahre lang bewohnt und dann in einem Anfall von Wahnsinn für fünftausend Mark verkauft, weil meine junge Frau plötzlich in der Stadt wohnen wollte. Warum mußte ich es überhaupt wiedersehen? Vielleicht, weil ich dort einmal glücklich gewesen bin? Oder um Wunden aufzureißen? Das Wiedersehen war jedenfalls ein Schock, der Hof war dem Verfall preisgegeben, und ich hätte in Tagen und Wochen nichts verpaßt. Die Gutsbesitzerin hingegen war amüsant gewesen, möglicherweise wohlhabend, ganz offensichtlich interessiert und genau im richtigen Alter.
Schon als ich das Schneehaus kaufte, war es baufällig. Es hatte knarrende Treppen, dicke Bohlen, zugige Fenster, einen offenen schwarzen Herd mit eisernen Stativen, an die man rußige Töpfe hängte, die Jauchegrube war verstopft, das Klohaus morsch. In der länglichen Stube hatten bis ins neunzehnte Jahrhundert hinein Webstühle gestanden. Dann war das Haus in den Besitz einer reichen Händlerfamilie übergegangen. Alle Türen hatten Kutschenschlösser.
Zum ersten Mal gesehen hatte ich es, als ich im Ferienhaus meines Lektors eine Edition vorbereitete. Eigentlich wollte ich vom Erzgebirge nichts mehr wissen, zu froh war ich, ihm entronnen zu sein. Aber dann verbrachte ich dort zwei herrliche Wochen. Ich war auf der Höhe meines Könnens, stolz auf meinen Weg aus dem Auer Hinterhof in diese komfortable Datsche, deren Eigner seinerseits stolz war, mich als Gast zu haben. Sogar das Wetter meinte es gut mit mir. Der Wald stand in glühenden Farben, die Luft war würzig, und wenn ich inspiriert den ganzen Tag gearbeitet hatte, lief ich die schroffen Hänge hinauf zwischen rostrotem Farn und blaßgrünem Moos, oder hinab in den Wald wie durch ein Fabelland aus goldenen Blättern. Wenn der Schatten heraufkroch, wurde es kühl, im Tal röhrten die Hirsche. Ich sog die rauhe Luft ein, eilte nach Hause mit kalter Haut, zündete Holz im eisernen Ofen an, hörte das Käuzchen schreien. Am nächsten Morgen voller Lust an den Schreibtisch, und immer, wenn ich aufblickte, fiel mein Blick durchs Fenster auf das Schneehaus, das nur einen Steinwurf entfernt stand. Das Schneehaus war größer als die Datsche des Lektors, aber marode und düster, dennoch wurde mir der Anblick vertraut. Die einzigen Bewohner waren eine sehr alte Frau und ihr Hund. Das müßte man haben, träumte ich. Sechs Monate später erreichte mich ein Telegramm, das Anwesen stehe zum Verkauf.
Der Lektor empfahl mir als Handwerker einen Zimmermann aus dem Dorf. Doch dieser große, dicke Mann starb an einem Herzinfarkt ausgerechnet in meinem ersten Stock, dessen Gänge so schmal waren, daß man den Leichnam aus dem Fenster abseilen mußte. Weitere Handwerker hatte die Siedlung nicht; es lebten dort nur sechzig Leute. Dann fand ich einen Gesellen aus dem Nachbardorf, der halb schwachsinnig war. Einmal hielt ich ihm die Leiter, da ließ er seinen Eisenhammer fallen. Ich spürte einen Schlag und ging in die Knie, von meiner Stirn schoß ein Vorhang aus Blut. Der Schwachsinnige rannte davon mit dem Schrei: » Iech hob wen umgebracht!« Gott sei Dank war die Frau des Lektors da. Ich taumelte rüber, schlug mit den Fäusten gegen die Tür, bis die junge Frau öffnete, sank auf der Schwelle zu ihren Füßen nieder und sagte: » Ich seh nichts mehr!«
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Jeden letzten Sonntagnachmittag im Monat gibt es bei uns eine öffentliche Lesung, jeder Stipendiat muß einmal ran, heute Sayed, und ich erfahre bei der Gelegenheit, daß es seine Abschiedslesung ist; nächste Woche wird er uns verlassen. Es betrübt mich ein bißchen. Zuletzt haben wir uns gut verstanden, und wer weiß, was nachkommt.
Es ist kein Tag für Ausflügler, zu düster, zu schwül, deshalb kommen als Publikum kaum zwanzig Figuren in der Scheune zusammen: neben Gabriel fünf Künstler, dazu sechs Kunstfreunde aus dem Umland und sieben Schwachsinnige aus dem Pflegeheim mit zwei Betreuern. Als Gabriel die Begrüßungsworte sprechen will, bricht ein Gewitter los: grelle Blitze von allen Seiten, Donner, Platzregen, während drinnen die Lampen verlöschen. Einige Behinderte schreien, doch als Gabriel sich auf den Weg zum Sicherungskasten macht, werden alle wieder munter, die Künstler laufen hinaus unters Vordach, um das Schauspiel zu genießen. Dort ist wenig Schutz, der Sturm schlägt Wasser und Hagel herein. Als Irene und Sidonie zurückkehren, sind sie
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