Dichterliebe: Roman (German Edition)
Kulisse ein. Zuerst denke ich, das gehöre zum Stück, doch allmählich bemerke ich die wieder echten Farben. Aus dem Bretterhaufen befreien sich Schauspieler, einer beginnt zu sägen mit einer gläsernen Säge – beim näheren Hinsehen ist’s eine Metallsäge, das Blitzen des Glases ein Sonnenreflex. Ein paar Meter unter mir vergewaltigt Jakob Sidonie im Orchestergraben. Mein Körper stürzt vor mir in den Tag, ich komme zu mir aufrecht im Bett sitzend, mit nassen Schenkeln und nasser Brust. Die Tür zum Gästezimmer steht offen. Sonnenlicht flutet herein.
*
Jakob hat bereits draußen den Frühstückstisch gedeckt, trinkt Kaffee und liest in einem Ostfrieslandreiseführer; er sieht nicht aus, als habe er mich vermißt.
» Na?« sagt er. » Gestern ne Zusatzschicht eingelegt?«
» Dein Schnarchen hat mir den Schlaf geraubt«, fahre ich ihn an.
» Tut mir leid.«
» Über deine blöde Regel mußte ich nachdenken!«
» Es ist nicht meine Regel. Im Gegenteil.«
» Ja, aber die Konsequenzen!«
Er lacht ungläubig. » Deswegen bist du schlecht gelaunt?«
» Ja, über deine selbstherrliche Moral! Du forderst Mut von abhängigen Autoren und bekennst dich selbst nicht mal zu deiner Glatze und deinen künstlichen Zähnen!«
» Ich habe einen Plan gemacht«, erklärt Jakob friedlich und hebt sein Frieslandbuch in die Höhe. » Wir könnten über Suurhusen – das mit dem schiefen Turm – und das Emssperrwerk bei Gandersum nach Emden fahren. Eine brandneue Johannes-a-Lasco-Bibliothek gibt es dort, die zwei Bände aus der Bibliothek des Erasmus von Rotterdam besitzt. Johannes hatte ja damals Erasmus’ Sammlung gekauft …«
Ich trinke Kaffee, um zu Kräften zu kommen, und streiche nervös ein Butterbrot.
» Dann die Museumsschiffe in Ratsdelft. Auf dem Feuerschiff Amrumbank zeigen sie eine schiffahrtshistorische Ausstellung mit dem Schwerpunkt Seezeichentechnik und Lotsenwesen.«
Sidonie tritt in den Garten. In Hosen, die nur bis zu den Knien reichen. Man sieht die runden braunen Waden, die festen nackten Füße. Ein helles T-Shirt mit irgendeiner Zeichnung … Sidonie in ihrem charakteristischen unregelmäßigen Gang trägt ein Buch durch den Garten und sucht nach einem schattigen Plätzchen, um sich niederzulassen.
» Da ist sie!« Ich versuche meine Aufregung zu verbergen.
Jakob wirft einen prüfenden Blick über die Schulter. » Vor zehn Jahren hättest du die nicht mal angesehen.«
Sidonie winkt. Ich winke zurück.
» Wie heißt sie?« fragt Jakob, während sie sich nähert.
» Sidonie Fellgiebel.«
» Was gefällt dir an ihr?«
» Fast alles. Schon der Name – weckt Assoziationen …«
» Sidonie!« stimmt er zu. » Wie Sidonie Nádherný, die Geliebte von Karl Kraus. Er besuchte sie auf ihrem Schloß und schrieb auf dem Steintisch im Park … Besitzt sie ein Schloß?«
» Ich meine den Nachnamen.«
» Du Schwein.«
Sidonie steht vor uns, gibt Jakob die Hand und sagt: » Sidonie Fellgiebel.«
Er errötet.
Aus der Nähe erkenne ich: Das Bild auf ihrem T-Shirt stellt eine Giraffe dar, als Mosaik aus goldenen, rotbraunen und ockerfarbenen Flecken. Die rotbraunen Flecken sind mit Ocker, die ockerfarbenen rot gesprenkelt. Nur die goldenen sind ganz und gar golden. Die Giraffe reicht von Sidonies linkem Hüftknochen bis zum rechten Schlüsselbein, ihr langer Hals wölbt sich bezaubernd über die rechte Brust. Sidonie steht also vor uns in ihrer rücksichtslosen Unschuld, lachend in der Erwartung, uns auszusaugen, während wir auf das obere Drittel des Giraffenhalses starren.
» Meine Sidonie«, flöte ich, » magst du mit uns frühstücken? Komm, setz dich, ich bringe ein Gedeck …« In der Küche, auf der Suche nach Geschirr und Brot, frage ich mich, warum ich flöten muß. Es ist meiner Würde abträglich, denke ich. Aber eine solche Lust, eine solche Lust. Ich möchte flöten wie die Amsel auf dem Dach.
» Sind Sie auch Dichter?« höre ich Sidonie fragen.
» Äh, Prosa. Das heißt, früher habe ich …«
Ich lege klirrend das Gedeck aus. » Früher haben alle«, unterbreche ich. » Seine Gedichte waren miserabel. Die Prosa geht.«
» Sie lieben also, äh, die Poesie?« fragt Jakob.
» Schon … Das heißt, bis vor kurzem hatte ich gar nichts damit zu tun. Erst durch Henry …« Ein froher, dankbarer Blick für mich. » Es ist – so exakt und innig … springt direkt in die Seele. Gerade hab ich wieder …« Sie zeigt uns ihr Buch: Weibliche Poesie von Sappho bis Mayröcker.
» Ja?«
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