Dichterliebe: Roman (German Edition)
frage ich zärtlich. » Was hast du gerade wieder …?«
Sidonie zitiert mädchenhaft:
Ich färbte dir den Himmel brombeer
Mit meinem Herzblut.
Aber du kamst nie mit dem Abend –
… Ich stand in goldenen Schuhen.
Jakob nickt. » Else Lasker-Schüler.«
» Auf solche Einfälle käme ich nie!« schmachtet Sidonie. » Den Himmel brombeer färben. Wer kann das? Wieso brombeer? Trotzdem haut’s hundertprozentig hin! Und: Ich stand in goldenen Schuhen – für Verliebtheit – sagt alles. Warum fallen mir keine Metaphern ein?«
» Vielleicht solltest du dich verlieben?« gurre ich.
Sie schüttelt den Kopf. » Auch dann würd’s mir nicht einfallen.«
» Probier’s aus!«
» Aber ich weiß ja gar nicht, ob ich das will!«
» Dich verlieben?«
» Nein, die Welt so sehen. So – idealisiert. Wenn ich denke, zum Beispiel – die Rhapsodie von Friederike Mayröcker …«
» Ich lasse Dich nicht Du segnest mich denn«, murmelt Jakob.
» Genau!
Ich bete Dich an in allen Deinen Geschöpfen
in Deinen flüchtigen hellen ängstlichen blinden
einsamen holden Geschöpfen
Die Geschöpfe sind doch gar nicht hold! Aber es klingt so schön …«
Wieder ein wonniger Blick für mich, den Schmetterlingsgenerator. Wir alten Sünder schmelzen dahin, und Sidonie, die junge Sünderin, schmilzt ebenfalls dahin, worauf wir beginnen, wechselseitig Gedichte aufzusagen und zu erzählen, von Anmut und Jugend. Unterdessen steigt die Sonne über die Krone der Linde und frißt Blatt für Blatt den Schatten.
Ich sehe Jakob in seinem Pullover und den Wollhosen schwitzend erzählen, wie er als junger Mann im Winter mit dem Rad über zugewehte Landstraßen zur Arbeit fuhr, » man sah nicht, wo die Straße endete, man mußte die Chaussee unter den Reifen erspüren«; ich höre beim Wort erspüren seine Stimme beben und unterbreche ein weiteres Mal. » Wenn wir heut noch nach Emden wollen, müssen wir los!«
Gleich geht’s los, hat das Pferd im Traum gesagt.
Elf Uhr, und schon dreißig Grad.
» Vielleicht … dürfen wir Sie einladen, uns zu begleiten?« Weiterhin mag Jakob dieselben Frauen, und daß Sidonie bei ihm einschlagen würde, wußte ich schon im Traum.
» Oder wir fahren bloß bis Leer?« frage ich. » Hast du Lust? Kleine Hafenrundfahrt mit der Koralle ?«
» Nein, vielen Dank«, antwortet Sidonie, » zu heiß. Ich setz mich hier in den Schatten und lese Gedichte …«
Auch mir bricht der Schweiß aus. Was soll ich in Emden?
Sidonie rät uns, helle und leichtere Kleider anzuziehen. Gerührt befragen wir sie: Ist Grün besser als Schwarz? Was für ein Grün – Dunkelgrün – Was gibt es noch – Paßt dir meine Hose? Jakob probiert, wir stöbern in Koffer und Schrank, kommen in heller Kleidung wieder raus und laufen verlegen um den Gartentisch herum.
PERSPEKTIVWECHSEL
immer nur sein eigenes opfer sein, wer hält das aus?
Thomas Böhme
Jakob ist in aller Frühe aufgebrochen. Wir trennten uns unzerstritten, das ist gut, denn es macht mich vor mir selbst verträglich. Dabei hat er verschiedene provozierende Dinge gesagt: Verläßlichkeit. Kleine Schritte. Prinzipientreue. Gut, daß er weg ist, die sozialdemokratische Nervensäge. Ganz zuletzt sagte er: » Perspektivwechsel, warum denn nicht?« Ich duckte mich, gefaßt auf den Anprall meiner Empörung, doch sie blieb aus.
Sich neu erfinden?
Und wenn einem nichts einfällt?
Abwarten. Gelten lassen. Nicht zerstören.
Ach Jakob, ich habe schon alles zerstört.
Nur das, was hinter dir liegt. Jetzt schau, was kommt.
Ich also im Garten, das Laptop vor mir auf dem Tisch; noch habe ich genug Schatten, um den Bildschirm zu sehen. Karatschinzew etliche Strophen. Notizen zu Metamorphosen. Vorsatz: vierundzwanzig gute Stunden. Warum nicht? Sommer. Hitze. Weite. Zeit zum Arbeiten. Genutzt.
Das einzige, was mich stört, sind die Dohlen, die zu Hunderten meine alte Weide besetzen. Gesprächsfetzen von Ast zu Ast, durch den riesigen Wipfel ein zerrendes Wabern. Ab und zu wirft sich der Schwarm in die Luft, dröhnt mit tausend Flügeln, zieht krakeelend Kreise und landet, zankend um Äste und Zweige, wieder über mir.
Verdüsterung: Mein letzter Winter in Halle. Auch dort vor dem Fenster Dohlen, in der Kälte gebläht wie schwarze Kugeln im nackten Geäst der Kastanie, eine Kulisse des Ruins. Der Boden eine silberne Platte. Irmi im braunkarierten Mantel balanciert über das Eis, verschwindet unter dem Fensterbrett, klingelt, steigt die Treppen herauf – der Lift ist defekt.
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