Dichterliebe: Roman (German Edition)
Arbeiterwohnheim um sechs Uhr früh und lache laut bei dem Gedanken, daß Theo Hünemörder mit Walter Pandur verwechselt worden ist. Ich lache so laut, daß im Nachbarzimmer einer mit der Faust gegen die Wand schlägt. Weiterschlafen unmöglich. Losfahren bei meinem Pegel ebenfalls. Als ich mich aufrichte, schlägt das Hirn so schmerzhaft gegen die Schädelwände, daß ich stöhnend zurücksinke. Das Leintuch ist naß. Eine Mücke attackiert pfeifend.
Schade, meine Sidonie! denke ich liegend, daß du das nicht miterleben durftest! Walter Pandur hat seinerzeit mit einem parteikonformen Kriegsabenteuerbuch in unserer DDR einen Millionenerfolg gelandet. Danach nichts mehr von Bedeutung. Statt dessen hat er übermäßig gegessen und getrunken; er ist so groß wie Theo, aber dreimal so dick. Auf Lesereisen begleitete ihn stets die wachsame Gattin. Entkam er ihrer Kontrolle, soff er sich ins Koma. Legendär ist, wie er bei einer Lesung vom Podest fallend ein Fahnengesteck mit sich riß. Niemand warf ihm solche Streiche vor, er stand unter dem Schutz der Partei. Gelangte ein kritischer Leserbrief in die Zeitung, ließ Pandur es sich nicht nehmen, den Briefschreiber persönlich zu beschimpfen. Tja, das tut er jetzt nicht mehr. Seltsam, daß gerade die hemmungslosesten Karrieristen am genausten wissen, wie weit man gehen darf.
Ich wanke über den Gang auf die Gemeinschaftstoilette, übergebe mich zähneklappernd, umklammere zitternd die Kloschüssel. Hilfe, welches Elend, selbstverschuldet, hilf, Himmel, ein letztes, ein letztes Mal. Warum so gesoffen. Pulsierendes Grauschwarz vor den Augen, rosa Blasen, Messerschläge in den Schädel. Das ist der Tiefpunkt. Wenn ich jetzt nicht sterbe.
Wenn ich aber sterbe. Wenn ich sterbe.
Sidonie.
Ich habe gesoffen, weil sie mir nicht geschrieben hat.
Aber vielleicht hatte sie zu tun? Vielleicht ist sie selbst auf Reisen? Ein Fax geht schnell verloren, und die Sekretärin dieser Strekosaer Burg war ein Biest. Hatte Sidonie nicht irgendwas von Lesungen im Breisgau erzählt, und ich habe nicht hingehört, weil ich mit mir selbst beschäftigt war?
Sidonies Bild leuchtet durch den anthrazitenen Nebel. Du! möchte ich rufen. Verzeih mir. Ein Leben ohne Du ist nichts, ich war verloren, aber – nicht deine Schuld, auch ich habe versagt – ich habe nicht zugehört …
Das bunte Bild so klar und fest, daß ich auf die Füße komme. Nur aufrecht gehen nicht möglich. Im Waschbecken Mund ausspülen. Wasser ins Gesicht mit vollen Händen. Es brennt. Kruste an der Augenbraue, Wasser färbt sich rot –
Im Spiegel mein Gesicht – entsetzlich. Entsetzlich weniger die Wunden als der Ausdruck. Kein Wort über den. Ein Zentimeterschnitt senkrecht durch die rechte Braue, Blut läuft über das Lid. Lippe geschwollen. Kinn aufgeschürft. Um Himmels willen. Gestürzt?
Ich hatte eine Schlägerei.
Jemand schrie: » Mach dich nicht unglücklich, Henry!« Jemand riß mich zurück.
Entsetzlich. Noch mehr Wasser. Gesoffen, Schlägerei. Alles im Nebel. Warum nur, mich unglücklich gemacht. Mit sechzig. Das Wort Altersweisheit muß eine Erfindung von Dichtern sein.
Ich kehre aufrecht in mein Zimmer zurück, reiße das Metallfenster auf, schnappe gierig nach Luft, stelle mich dem Gebrüll der Vögel.
Es war Wigald Herrlis. Ich war in der zweiten Pause gegangen und traf ihn in einem Lokal, mit anderen Kollegen. Er sprach über Marita, meine Frau … was hat sie mit Wigald Herrlis zu schaffen? Was er mit ihr? Meine Ex, doch immerhin einst heftig meine Frau – mit Wigald Herrlis? Was hat er gesagt?
Er war mit ihr im Konzert!
Er war mit ihr im Konzert.
Ist es nicht egal, daß er mit ihr im Konzert war? Warum soll er nicht, wenn’s ihn nicht langweilt und nicht sie. Liederabend Robert Schumann, warum nicht. Aber er hat was darüber gesagt.
Er sagte, sie sei rausgelaufen … abrupt … nämlich … Ihr sei schlecht geworden, als sie im Programmheft … das Wort Dichterliebe las.
Entsetzlich.
Sidonie! denke ich am offenen Fenster. Jetzt bin ich durch. Ich will nicht mehr versagen. Ich werde nicht mehr klagen. Du weißt, daß ich maßvoll trinken kann. Maßlos trinke ich nur in der Verzweiflung. Wenn ich dich ansehe, bin ich stark. Bleib bei mir, daß ich dich ansehen darf. Ich werde dich die Literatur lehren. Und du mich das Leben.
WARTEN
Schreib in offnem Gelände
uns beiden ein Stück
vom verstümmelten Ende
zum offenen Anfang zurück.
Werner Söllner
Sie ist nicht da. In ihrem Postkorb fünf
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