Dichterliebe: Roman (German Edition)
katholisch. Gabriel zieht andächtig ein Faltblättchen aus der Brusttasche seines Cordhemds und reicht es mir. Aus einem schwarzgerahmten kleinen Farbfoto blickt Anna mich ratlos an: starke Brauen, dünne Lippen, hohlwangig, hochmütig ergebene Augen. Wir trauern um …, die Gott der Herr heute, versehen mit den Sakramenten unserer hl. Kirche, im Alter von 53 Jahren zu sich nahm.
Anna wollte gern eine Messe für sich lesen lassen; allerdings war sie vor zwanzig Jahren wegen des Pillenverdikts aus der Kirche ausgetreten. Gabriel hat der Kirche tausend Mark gespendet, sozusagen als postume Kirchensteuer. Annas Heimatpfarrer meinte, in sechs Monaten könne das mit der Messe in Ordnung gehen. Der Pfarrer von Staverfehn könne sogar noch mehr entgegenkommen, wenn er sich erinnere, daß Anna jeden Sonntag die Heilige Messe besucht habe, lächelt Gabriel. Das habe sie wirklich, sagt er. Und er sei aus Liebe mitgegangen.
Die neue Kollegin, Lucie Materna vom Prenzlauer Berg, mir ein Begriff, sitzt im Halbdunkel neben dem Kamin, nicht nur äußerlich abseits. Eine jugendliche Vierzigerin mit Tigerleggins und entrücktem Vogelgesicht, die lächelt, als empfange sie eben ein Gedicht. Schöner Anblick: das offensiv Schräge und das gotische Zarte. Ein Anbetungsstück. Dunkles Haar wie eine Haube, Glanz. Hört sie zu? Kaum. Auf einmal umwölkt. Schlechten Satz im Kopf, falscher Rhythmus, schwaches Wort – konzentriert sich. Die spitze Nase wird noch blasser, eine Falte teilt die glatte Stirn. Lautloser Nervenkampf. Dann hellen sich die Züge auf. Mitten durch Gabriels Trauerrede gleitet sie katzenhaft zum niedrigen Tisch, greift eine Serviette, kehrt lautlos ins Halbdunkel zurück und beginnt auf dem schlanken, schwarzweiß getigerten Schenkel die Serviette zu beschreiben.
Vorhin, als ich mich bekannt machte, hat sie mit dunkelbraunen Vogelaugen erst links, dann rechts an mir vorbeigeblickt, nicht scheu, sondern zerstreut: » Henry Steiger … aha …«
Ich war verlegen, weil ich als Juror sie mal nicht bedacht hatte. Ob sie’s weiß? Dabei hat mich ihre Lyrik beeindruckt, sie ist hart, strahlend; eigentlich bewundere ich diese hochsubjektive Beziehung zur Sprache, aber ich verlor im Gestrüpp der Assoziationen die Autorin und mich. Was übrigens nur halb wahr ist.
Materna flog Anfang der siebziger Jahre von der Karl Marx Uni, weil sie sich für einen kritischen Kommilitonen eingesetzt hatte. Später kam sie als Unterzeichnerin der Biermann-Petition für ein Jahr in Haft. Das passierte den Namenlosen; niemand nahm von ihrem Opfer Notiz. Materna blieb zur allgemeinen Überraschung in der DDR und wurde Künstlerin. Auch nach der Wende ist sie meines Wissens nicht als Dissidentin aufgetreten im Gegensatz zu den ungeschorenen Juroren, die sich inzwischen ihres Mutes rühmten. Um uns nicht schämen zu müssen, disqualifizierten wir altherrenhaft Lucies schrille Nachwendepoesie und bedauerten scheinheilig, daß die Dichterin konkret geworden sei. Co-Juror Podersam zitierte so höhnisch ein pornographisches Poem, daß ich nicht widersprach, obwohl es mir gefiel. Es spielt in einem bulgarischen Hotelzimmer, sengender Tag, durch Lamellen einer Jalousie gestreiftes Licht, draußen Marktgeschrei Hupen Hundegekläff, das lyrische Ich will von einem Du geleckt werden. Dieses Gedicht übergehend erklärte ich, daß ich von Maternas harter, strahlender Lyrik beeindruckt sei und diese hochsubjektive Beziehung zur Sprache bewundere, und so weiter. Podersam zwinkerte: » Alter Lüstling.«
Was hilft’s? Ach Materna, wie wunderbar sind junge Künstlerinnen, denke ich, grenzenlos erleichtert, daß Lucie sich für meinen Verrat nicht zu interessieren scheint. Schon stelle ich mir die mutige bewegliche Dichterin in einem bulgarischen Hotelzimmer vor, nackt in der Nachmittagshitze, von Lichtstreifen zerteilt, zu Leckendes zeigend. Ich lächle jetzt, befangen wie ein Jüngling, ich alter Esel. Und dann tritt der Materna-Gatte ein, ein blonder Riese mit Schaufelkinn. Der Lecker. Nennt einen Namen, den ich nicht kenne. Setzt sich breitbeinig. Fixiert mich streng. Sie beachtet ihn nicht. Aber daß ich sie beobachte, spürt sie. Er merkt’s auch und knirscht. Armer Riese. Mit dieser Frau brauchst du starke Nerven.
*
Schwerer Nebel, Anfang August. Alles ersoffen in Weiß, nur das Geschnatter der Vögel bezeugt den Sommer. Nach Stunden erhebt sich Wind, der den Nebel vertreibt und mit dem Nebel die Wärme. Am kühlen Himmel hellgraue Wölkchen mit
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