Dichterliebe: Roman (German Edition)
sechs war. Sonst lese keiner. Sie könne mit keinem reden. Ihre Berufswahl sei der Familie gleichgültig. » Ohne Bücher hätte ich mich umgebracht.« Ihre blassen Augen wurden dunkel, als sie das sagte.
» Die Bücher haben Sie nicht enttäuscht?«
» Nein. Grillparzer ist mir geblieben … später kam Stifter dazu … und Sie …«
» Was haben Sie dort gefunden?«
» Was habe ich gesucht? Die Zerrissenheit … das Abgründige hinter der gravitätischen Fassade der Alten und Ihrer …«, sie nickte mir schüchtern zu, » Eleganz. Diese … Leidenden« – hier lächelte sie – » haben mich getröstet.«
Obwohl es in der Wohnung immer noch nicht warm war, entledigte sich Graziella ihres Mantels und zog einen Seidenschal vom Hals, ohne mich anzusehen. Ich hängte beides in den Flur. Als ich zurückkam, saß sie reglos mit dem Rücken zu mir. Rosa Kaschmirjacke, Perlenkette, ein weicher, leicht behaarter Nacken, verzagte Schultern. Sie sank noch etwas in sich zusammen, als warte sie auf ihr Schicksal. Eine blasse Strähne fiel aus der Turmfrisur und zitterte.
Ob sie überhaupt schon einen Mann gehabt hatte? Was bedeutete ihr Lächeln, als sie von Trost durch Leiden sprach? Mich faßte Erbarmen mit dieser diaphanen, mürben Frau. Erwartete sie wirklich Erlösung von mir, von mir, ausgerechnet in dieser traurigen Bude auf verqualmten Laken? Wie einsam mußte sie da sein?
Nicht nur aus Skrupel zögerte ich. Ich war mir auch meiner selbst keineswegs sicher. Wieviel Versagen übersteht ein Mensch? Mit drei behutsamen Schritten war ich beim Bücherregal und zog den Hochwald heraus. » Darf ich Sie bitten«, sagte ich. » Ich wollte schon immer einmal Stifter hören in österreichischer Intonation …«
Gehorsam begann sie zu lesen: » An der Mitternachtseite des Ländchens Österreich zieht ein Wald an die dreißig Meilen lang seinen Dämmerstreifen westwärts, beginnend an den Quellen des Flusses Thaya …« Die Stimme jetzt leicht belegt, so angespannt wie innig. Ich lauschte den weichen Konsonanten, den gedehnten Vokalen, der ruhigen Sprache, die dahinfloß wie die dunklen Horizontlinien des Böhmerwalds. Was tun, was tun? » … jenes schwermütige Bild … wie wir es selbst im Herzen tragen seit der Zeit, als es uns gegönnt war, dort zu wandeln und einen Teil jenes Doppeltraumes dort zu träumen, den der Himmel jedem Menschen einmal und gewöhnlich vereint gibt, den Traum der Jugend und den der ersten Liebe …« Fallstricke, überall! Ich konnte nur verlieren, obwohl die Worte ganz allmählich zündeten, Angriff wie Nichtangriff bargen Gefahr, auf mich ohnehin kein Verlaß … und dann pocht es laut an die Tür, und Theo Hünemörder platzt herein.
» Hey, Henry, Klaus hat mir erzählt, daß du hier, mein Stück … morgen Premiere …« Er stellte ein Dederonnetz mit Weinflaschen auf den Boden, warf den Mantel ab und rief: » Na so was! Eine Prinzessin!« Er musterte Graziella. » Eine verwunschene Prinzessin. Ach.«
Graziella schien nicht weniger erleichtert als ich. Theo zog aus seinem Beutel die erste Flasche und riß den Korken heraus. Wir tranken, und, was für ein Glück, Theos Courtoisie machte auf Graziella Eindruck. Natürlich gab Theo mit Lederjacke und Fünftagebart den rabiaten Künstler viel besser als ich, ich lehnte mich zurück und genoß seine Einfälle, jetzt hatte ich Graziella doch noch was bieten können, animalische Ost-Bohème, Gott sei Dank.
Allerdings hielt Theo das Niveau nicht. Nach der zweiten Flasche begann er zu faseln, und als er zum WC hinabpolterte, flüsterte Graziella besorgt: » Hörn S’, der Mann is’ ja Alkoholiker!«
» Stimmt!« Auch ich flüsterte, während Theo unten sich lärmend erleichterte.
Sie lächelte traurig. » Also anrufen hätt er wenigstens können!«
» Hier gibt es kein Telefon.«
» Wie?«
Draußen knarrten die Stufen.
» Nur wenige Menschen hier haben Telefon«, flüsterte ich.
Wir hörten Theo taumeln, er nutzte die volle Breite der Treppe.
» Um Himmels willen, wie verabredet man sich denn da?«
» Wir schicken Telegramme.«
Theo trat ein, verdüstert, verwirrt, und ließ sich auf den Stuhl fallen. Er musterte uns mit blutunterlaufenen Augen.
» Henry«, krächzte er, » bist du’s?«
» Ja.«
» Haste n Blatt Papier?«
Er legte das Blatt auf die Mitte des Tisches, malte einen Pfeil in meine Richtung und schrieb: HENRY . Dann malte er einen Pfeil in Richtung Graziella. » Und wie heißt die?«
Ich diktierte es ihm in die
Weitere Kostenlose Bücher