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Dichterliebe: Roman (German Edition)

Dichterliebe: Roman (German Edition)

Titel: Dichterliebe: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Morsbach
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erhalten.
    Graziella schrieb nun persönlicher. Sie entschuldigte das langsame Fortschreiten ihrer Arbeit mit privaten Umbrüchen, denen zufolge sie die Bibliotheksarbeit vernachlässigt habe. Ich berichtete meinerseits von familiären Turbulenzen und deutete die Gefahren der aktuellen Lage an. Sie antwortete mit blanker Verehrung. Wenn ich Ihre kraftvollen Zeilen lese, kommt mir alles Meine wie eine Scheinexistenz vor. Für Ihre Bedenken müssen Sie sich angesichts der brutalen Umstände nicht entschuldigen, wirklich nicht. So korrespondierten wir einander in eine Erregung. Ich gab das gefesselte Genie hinter dem Eisernen Vorhang, sie die verzagte Wohlstandsdame. Ich erfuhr, daß sie kürzlich wieder bei ihrer Mutter eingezogen war. Immerhin komme ich hier gut mit der Arbeit voran, da ich mich nicht mehr um den Haushalt kümmern muß.
    Die Mauer fiel. Ungläubige Exaltation, schrieb Graziella. Ob Sie mir raten können, lieber verehrter Herr Steiger, welche Städte ich als erstes besuchen soll? Ich war noch nie in Weimar …
    Weimar also. Im Winter.
    Sie stieg im Hotel Elephant ab, ich bei meinem Theaterkollegen Klaus Petzold. Nüchtern, mit Jackett und Krawatte, holte ich Graziella im Elephant ab.
    Wie stellt man sich eine Frau vor, die Graziella heißt? Daß sie nicht forsch war, wußte ich aus ihren Briefen, doch schwarzhaarig hatte ich sie mir zumindest vorgestellt, mit einem verschlossenen Gesicht und zusammengewachsenen Brauen. Die Frau, die mich dann schüchtern ansprach, hatte ich glatt übersehen, obwohl sie einen offensichtlich teuren beigen Mantel trug. Sie war einen Kopf kleiner als ich, nicht schlank, etwas gebeugt. Die Frisur hochgesteckt, Haare graublond und zart. Die ganze Frau graublond und zart; Pölsterchen unterm Kinn, eine gepuderte kleine Nase, altrosa Lippenstift. Empfindsame Augen, blaßblau. Sie wirkte gleichzeitig älter und jünger als ihre zweiunddreißig Jahre, ältlich und unerfahren, gescheit und verletzlich. Hatte sie sich Gedanken gemacht, wie sie als reiche Wienerin in der DDR aufzutreten habe? Wie sie wirkte, oder wirken wollte, etwa auf mich? Fand sie mich ebenso kurios wie ich sie? Ich war so verwirrt, daß ich mein » Küß die Hand, gnä Frau!« durchaus nicht so ironisch artikulierte, wie es geplant gewesen war.
    Auf unserem Stadtrundgang berichtete mein Gast erregt von den Abenteuern im wilden Osten: der Mühe, ein Taxi zu finden, dem Betrug des Fahrers, dem unberechenbaren Kopfsteinpflaster, auf dem sie sich fast den Fuß ausgerenkt hätte, den zwanzigjährigen Unterschichtsmännern, die einen in dunklen Ecken ansprachen, um Devisen zu tauschen. Graziella besaß eine samtene Altstimme und sprach nicht näselnd gedehnt, sondern weich und kultiviert. Aber in diesem melodischen Edelwienerisch vernichtete sie auf einem einzigen Spaziergang unser ganzes Weimar: die baufälligen Häuser, den blätternden Putz, das faule Stroh im modrigen Fachwerk, die nassen Braunkohlehaufen auf dem Gehsteig vor den Kellerluken, die braunen Pfützen, süßlichen Trabifahnen. Auch die ehrgeizigen Seiten unserer Touristenstadt, die geputzten Fassaden der Schillerstraße, die nostalgischen Laternen, die hingebungsvoll eingerichteten Gedenkstätten bestanden nicht. Ich war so aufgewühlt, daß ich selbst nicht wußte, ob ich die Arroganz angreifen, aufgreifen oder mir zu eigen machen sollte. Ich schämte mich für die Verkommenheit und verschmolz mit ihr, gleichzeitig sammelte sich mein Stolz, und ich wollte sagen: Liebe Graziella, indem Sie meine Stadt schänden, schänden Sie ihr und mein Schicksal, das Sie in Ihren Briefen noch bewundern zu müssen glaubten. In diesem Augenblick erklärte sie, daß ich hoffentlich ihre Kommentare nicht auf mich bezöge, und begann, mit dem eigenen Hochmut zu hadern. Es stimme, daß nur weniges auf der Welt Gnade vor ihren Augen finde, aber in Ost wie West. Dann brachte sie gewunden zum Ausdruck, daß einiges wenige aber natürlich doch Gnade finde, und darunter ausgerechnet ich.
    Da inzwischen Sonne durch den Kohledunst drang, schlug ich einen Spaziergang an der Ilm entlang zu Goethes Gartenhaus vor. Ja, summte Graziella, gern, aber ob sie sich wohl einhängen dürfe auf dem Weg durch den Park? Sie legte ihre Linke auf meinen rechten Unterarm und ging, deutlich unsicher auf den Füßen, so eng bei mir, daß ich ihre Brust an meinem Oberarm spürte. Was wollte diese junge Frau, die sich schwer anfühlte wie eine alte? Konnte es wirklich sein, wäre es denkbar, daß

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