Dicke Hose (German Edition)
Lederzuschnitt bis zur Einarbeitung der letzten Öse.» Triumphierend strahlt Victoria mich an. «Aber das Tollste ist: Die Kunden können sogar Wünsche äußern oder sich ihr Monogramm in eine der Taschen prägen lassen. Eine organisatorische Herausforderung, ich bin wirklich froh, dass du Italienisch sprichst.»
Öhm.
Es folgt ein verschämtes Lächeln. «Mein Italienisch ist nämlich etwas eingerostet, seit ich es nicht mehr schaffe, den Abendkurs zu besuchen.»
Tja, und ich bin wirklich froh, dass ich in diesem Moment sitze. Nicht allein wegen meiner Italienischkenntnisse, für die die Bezeichnung eingefroren geradezu ein Kompliment wäre. Viel schlimmer ist, dass ich schon wieder dieses Kribbeln verspüre. Von der körperlichen Nähe zu Victoria bekomme ich eine Gänsehaut. Vorsichtshalber hefte ich meinen Blick fest auf den Plan.
Victoria ist ganz in ihrem Element. «Kai und ich haben schon den Umbauplan für den Laden fertiggestellt. Jeder Arbeiter braucht Platz für seine Maschine, und es sollte sich eine logische Reihenfolge ergeben, die unsere Kunden bei der Besichtigung ablaufen können. Außerdem muss natürlich nebenbei noch der Verkauf weitergehen. Dafür werden wir im Büro hier unten einen weiteren Verkaufsraum für Wäsche und Basics einrichten und oben im Boudoir die wichtigsten Teile der neuen Kollektion präsentieren.» Sie holt kurz Luft. «Es wird nicht leicht, aber es lohnt sich.»
Es lohnt sich? Dieser ganze Aufwand für einen Tag? Das kann nur eine Frau geplant haben!
«Natürlich kommen die Arbeiter nicht extra nur für einen Tag hierher», sagt Victoria und sieht mir fest in die Augen. Wieder habe ich den Eindruck, als könne sie mir direkt bis ins Hirn schauen. «Es ist eine Art Tournee. Sie reisen mit der Aktion durch Europa. Und am Wochenende sind sie eben in Hamburg. Toll, nicht?»
Ja, total toll. Trotzdem furchtbar aufwendig.
Aber wenn Frauen nichts zum Planen haben, sind sie bekanntlich nicht glücklich. Ständig muss irgendwas organisiert, sortiert oder aufgelistet werden. Frauen planen doch glatt ihren Urlaub ein Jahr im Voraus. Vermutlich ist sogar die irrwitzige Vorgabe mancher Firma, man solle seinen kompletten Jahresurlaub bis März einreichen, der Geistesblitz einer Frau gewesen. Todsicher. Denn nur eine Frau weiß bereits im Frühjahr, dass sie im Oktober eine Woche an der Nordsee im Watt wandern möchte. Ob es nun regnet oder schneit. Total egal. Hauptsache, es gibt einen Plan. Für einen Mann dagegen grenzt es ja bereits an Nötigung, wenn er gezwungen wird, montags zu entscheiden, ob er mittwochs ins Kino gehen möchte.
Victoria räuspert sich. «Es wäre also super, wenn du morgen in der mailändischen Zentrale anrufen könntest, um zu klären, ob wir noch an irgendetwas denken müssen. Manchmal vergessen die dort einfach, uns Bescheid zu sagen.»
Vorsichtig schiele ich von dem Plan hoch. Tatsächlich, Victoria scheint das ernst gemeint zu haben. Ihre Augen blicken freundlich, und seit langem sehe ich ihre Stirn ohne die angestrengten Falten. Sofern sie nicht diesen spöttischen Blick aufgesetzt hat, könnte ich sie stundenlang angucken. Vor allem jetzt, da ihr Make-up nicht mehr ganz so perfekt sitzt wie am Morgen und auf ihrer Nase langsam die Sommersprossen zum Vorschein kommen. Dazu ist der Lidstrich leicht verwischt, und im Mundwinkel klebt irgendetwas.
Sollte Victoria tatsächlich in mein Gehirn gucken können, würde sie dort unweigerlich folgende Gedanken lesen:
Ist der Krümel auf ihrer Lippe etwa ein Stück Schokolade?
Warum nur habe ich mich heute Morgen nicht rasiert?
Sollte ich nicht zum Abendessen bei Tanja sein?
Warum muss ich dauernd daran denken, diese Lippen zu küssen?
Wird in der mailändischen Zentrale vielleicht Deutsch oder wenigstens Holländisch gesprochen?
Die Situation, in der wir uns befinden, ist fernsehreif. Ein Mann und eine Frau sehen sich tief in die Augen. Keiner sagt was. Es knistert … Selbst in Krimis bleiben dem Zuschauer ja neuerdings romantische Momente nicht erspart. Und ich bin mir sicher, dass ich das, was ich jetzt tue, in einer dieser Sequenzen aufgeschnappt habe. Von selbst wäre ich jedenfalls nicht draufgekommen, meine Hand an Victorias Mund zu führen, den Schokoladensplitter sanft von der Lippe zu zupfen und ihn anschließend aufzuessen. Nein, ohne das schlechte Fernsehprogramm hätte ich nur eines getan: mich daran erinnert, dass in meinem neuen, provisorischen Zuhause eine wunderbar normale Frau und ein
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