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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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durch eine erstaunliche Anzahl von Inseln, Inselchen und Archipelen aus, ganz abgesehen von den Klippen, Schären, Eilands, Riffen, Halbinseln, Luftspiegelungen, Wracks, Tonnen und unzähligen Steinen, die bei Ebbe zeitweise zum Vorschein kamen.
    Auch wenn es auf den Seekarten dieser Region Inseln in Hülle und Fülle gab, so war, was Straßen anging, ein eklatanter Mangel festzustellen. Man könnte dies für eine Auslassung halten, die Seekarten nun mal zu eigen ist, da ihr Hauptzweck ja darin besteht, bei der Navigation auf dem Wasser behilflich zu sein – doch die Erklärung lag viel näher: Auf den Karten waren keine Straßen eingezeichnet, weil es ganz einfach keine gab. Die 138 endete in Havre-Saint-Pierre und tauchte in Pointe aux Morts kurz wieder auf. Die Entfernung zwischen diesen beiden Punkten – 350 Seemeilen, mit zahlreichen Untiefen gespickt – war per Schiff oder mit dem Flugzeug zurückzulegen.
    Diese Straßenarmut zog zwei schwerwiegende Folgen nach sich.
    Die erste war, dass die Leute aus Tête-à-la-Baleine recht wenig vom Fleck kamen. Sie begnügten sich damit, eine Art saisonales Nomadentum zu betreiben, die als Völkerwanderung bezeichnet wurde und die darin bestand, den Sommer einige Meilen vor der Küste auf der Île Providence zu verbringen. Dieser kollektive Umzug gestattete einst, zur Fangsaison näher an die Dorschbänke heranzukommen. Es bleibt die Frage, warum heute, da die Boote der Dorschfischer am Quai von Tête-à-la-Baleine lagen, niemand auf die Idee kam, sein eigenes kleines Sommerdorf auf einer anderen Insel zu errichten, etwas weiter weg, irgendwo nördlich der Île Providence. An Inseln bestand in dieser Gegend schließlich kein Mangel.
    Die zweite – und zweifellos schwerwiegendere – Folge war, dass Joyce, die sich in die Seekarten ihres Vaters hineinträumte, bis zu ihrem zwölften Geburtstag noch keinen Schritt ausserhalb des Dorfes gemacht hatte.
    Joyce’ Mutter war eine Woche nach der Geburt gestorben, weil ihr angeblich der Kopf eines Kapelans in den Bronchien stecken geblieben war. Es kam vor, dass die Details der Geschichte leicht variierten. Manchmal war vom Wirbel eines Dorsches in der Lunge die Rede, sogar von einer Heringsgräte in der Luftröhre – wie dem auch sei, eine Sache war sicher: Sie war ein Opfer des Meeres.
    Da Joyce’ Vater nicht die Absicht hatte, erneut zu heiraten, blieb sie Halbwaise und Einzelkind, nach Gott alleinige Gebieterin an Bord – kurzum, es oblag ihr, Essen zu kochen, das Haus zu wischen und die Hausaufgaben alleine zu machen, alles Verpflichtungen, denen sie bereits im Alter von sechs Jahren routiniert nachkam. Die Gastronomie beschränkte sich darauf, die zufälligen Fänge, die ihr Vater vom Fischkutter mitbrachte, entweder zu kochen oder zu braten. Was das Putzen anbelangt, so nahm sich Joyce ohne jede falsche Scham der Aufgabe an. Es herrschte in diesen vier Wänden ein chronisches Durcheinander, über das ihr Vater tolerant hinwegsah.
    Doch die schwierigste aller Aufgaben bestand darin, die Familie ihres Vaters zu ertragen, eine Sammlung inquisitorischer Tanten, wilder Cousins und polternder Onkels, die, wann immer es beliebte, bei ihnen zu Hause aufkreuzten. Joyce’ Vater, ein gutmütiger Altruist, konnte sich nicht dazu durchringen, Brüder und Schwager vor die Tür zu setzen: Sie gingen dort ein und aus wie bei sich zu Hause, luden sich zum Abendessen ein, wetterten lautstark gegen die Fangquote für Dorsch und die Fischereiinspektion, breiteten sich aus über die neuesten Essensgewohnheiten der Japaner und blieben, um La Soirée du hockey zu gucken. (Sie waren große Fans von Guy Lafleur.)
    Joyce hatte seit langem verstanden, dass das Haus ihren Onkels einen neutralen Hafen bot, in sicherer Entfernung von den Vorhaltungen ihrer Gattinnen, zumindest so lange, bis eine von ihnen eine Razzia machte und den Ausreißer an den Ohren oder anderen hervorstehenden Körperteilen wieder nach Hause holte. Das war übrigens auch der einzige Grund, warum Joyce’ Tanten sich dort blicken ließen – was sie jedoch nicht daran hinderte, bei dieser Gelegenheit kopfschüttelnd die vorherrschende Unordnung zu begutachten.
    Die raufsüchtige Horde der Cousins stellte die problematischste Untergruppe dar. Sie fielen ein wie ein Schwarm Heuschrecken, zogen Joyce an den Haaren – die sich infolgedessen entschloss, sie kurz zu tragen –, stellten ihr ein Bein und ließen keine Gelegenheit aus, über sie herzuziehen. Sie nutzten die

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