Dickner, Nicolas
Abwesenheit ihres Vaters aus, um den Kühlschrank zu plündern, wobei sie sich des Biervorrats und der geräucherten Heringe bemächtigten, denen sie vor dem Fernseher zu Leibe rückten. Nur die Hiebe mit Töpfen und Gabeln ermöglichten es Joyce, dieser ungezügelten Kraft Einhalt zu gebieten.
Als Gegengewicht zu der aufdringlichen Familie ihres Vaters hatte Joyce die Familie ihrer Mutter – eine unsichtbare, abwesende Familie, die nunmehr auf ein einziges Mitglied reduziert war: ihren Großvater Doucet.
Lyzandre Doucet lebte allein in einem wackeligen Haus am Strand, einige Kilometer vom Dorf entfernt. Man sah ihn selten sein Haus verlassen und niemand ging ihn besuchen. Joyce bewunderte alles an ihrem Großvater: seine faltigen Hände, die Augenklappe, die sein linkes Auge bedeckte, die fürchterlichen kleinen Porto-Zigarren, die er tagein tagaus rauchte – und vor allem die tausend wundersamen Geschichten, die er wieder und wieder erzählte. Jeden Nachmittag nach der Schule eilte sie zu ihm. Sie saßen in der Küche und tranken eine siedendheiße Mixtur, die in den Tassen einen rostigen Rand und im Hals einen bitteren Geschmack hinterließ und die ihr Großvater als Tee bezeichnete.
Und in eben dieser Küche enthüllte Lyzandre Doucet seiner Enkelin das große Familiengeheimnis.
Auch wenn es nicht danach aussah, versicherte er, war Joyce die letzte Nachfahrin eines alten Piratengeschlechts, dessen früheste bekannte Ahnen Alonzo und Herménégilde Doucette hießen – auch wenn sie je nach Umständen, Ort und den jeweiligen grammatikalischen Gepflogenheiten Doucet, Doucett, Douchette, Douchet, Douchez, Douçoit, Duchette, Ducette, Dowcett, Dusett, Ducit oder Dousette genannt wurden.
Die beiden Brüder von der Küste, die zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Becken von Annapolis Royal geboren worden waren, hatten eine kurze aber heftige Karriere als Piraten bestritten. Sie hatten Dörfer in Neuengland verwüstet, mehrere britische Schiffe geentert und die allzu begehrlichen Konkurrenten zum Teufel gejagt. Im Frühjahr 1702 hatten sie sogar einen tollkühnen Überfall auf den Bostoner Hafen gewagt. Ihr Treiben dauerte bis zu dem Tag, als Alonzo von einer läppischen Magenverstimmung dahingerafft wurde. Herménégilde konnte sich daraufhin zur Ruhe setzen, dank des reichlichen Beuteguts, das die beiden Brüder in den kleinen, nebelverhangenen Buchten Neuschottlands versteckt hatten.
Die Berufung zum Piratentum der Familie Doucet hätte sich mit diesem Rückzug sicherlich erschöpft, hätte es im Jahre 1713 nicht die Unterzeichnung des Friedens von Utrecht gegeben.
Durch die Abtretung Akadiens an die britische Krone brachte Ludwig der XIV. die Siedler allesamt in eine missliche Lage, allen voran die Familie Doucet, deren Raubzüge durch Neuengland keineswegs vergessen waren. Herménégildes Kinder sahen das drohende Unwetter aufziehen, kamen der Deportation zuvor und verstreuten sich in alle Winde, von der Baie des Chaleurs bis zum Golf von Mexiko.
Die Haltlosigkeit und politische Unsicherheit rief erneut die Piraterei auf den Plan.
In Nord und Süd tauchte eine Unzahl kleiner Seeräuber auf, zum Beispiel Armand Doucet, Euphédime Doucette, Ezéchias Doucett, Bonaventure Douchet und viele andere Doucets in unterschiedlichster Orthografie, deren Vornamen die Geschichte größtenteils vergessen hat. Und da ein Pirat selten allein kommt, schloss sich so mancher Seeräuber der Doucet-Familie an: Kapitän Samuel Hall aus Neuschottland, der neufundländische Turk Kelly und Louis-Olivier Gamache, der berühmte Freibeuter aus der Ellis Bay. Joyce’ Großvater gab sogar vor, Jean Lafitte, der legendäre Korsar aus Lousiana, sei ein entfernter Großcousin.
Joyce hatte noch nie etwas von Jean Lafitte gehört, ließ sich aber sehr bereitwillig beeindrucken.
Ein Jahrhundert später errichteten Joyce’ Urgroßvater und seine beiden erstgeborenen Söhne das legendäre Haus der Doucets nahe bei Tête-à-la-Baleine. Hastig aus Treibholz zusammengezimmert, schwankte es im Nordost unter unheilverkündendem Knacken und neigte sich zum Wasser wie ein großer Meeressäuger, den man vergeblich am Ufer festhalten wollte. Bei jeder Springflut schloss die Dorfbevölkerung Wetten darüber ab, ob die Konstruktion endlich nachgeben und vom Wasser davongetragen würde, doch die Jahre vergingen (verkündete Großvater Doucet lautstark und klopfte dabei an den nächstbesten Balken) und die alte Baracke stand noch immer.
In diesem Haus
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