Dickner, Nicolas
schieben. Monsieur Barrier war sichtlich gereizt, als er sie befragte. Wie glaube sie, der Gesellschaft nützlich sein zu können? Früher oder später müsse sie sich entscheiden!
Joyce antwortete mit einer vielsagenden Schnute. Die fünf Jahre in Sept-Îles hatten ihr keinerlei Gewissheit gebracht. Sie hatte zwei Leidenschaften: Mathematik und Schuleschwänzen. Nun, da brauchte es keinen Berufsberater, um zu erahnen, dass man mit diesen beiden Disziplinen eine zweifelhafte Zukunft zu erwarten hatte. Sie sah sich auch kaum als obdachlose Mathematikerin oder als Landvermesserin ohne Land.
Des beschwerlichen Tête-à-tête’s überdrüssig, bekräftigte Joyce schließlich, sie wolle Kartografin werden. Monsieur Barrier hob erstaunt die Augenbrauen, wagte jedoch keinen Kommentar. Entschieden war entschieden, und man konnte die lästige Angelegenheit der Berufswahl Joyce Kentys endlich zu den Akten legen.
Es klingelte zur Pause, als sie das Büro von Monsieur Barrier verließ. Zehn Minuten Freiheit blieben ihr, bevor sie Informatik bei Monsieur Turbing hatte, und sie beschloss, etwas frische Luft zu schnappen.Es war ein vernieselter Donnerstagvormittag, ohne Himmel, ohne Horizont. Jeder Schritt machte ein Sauggeräusch am Boden und ein kaum wahrnehmbarer Wind schob den Geruch des Meeres bis auf das Schulgelände. Joyce überquerte den Hof und betrachtete die Außenwelt durch die Maschen des Zauns. Sie sah auf die Uhr. Nur noch sechs Minuten Freiheit.
Sie seufzte.
In ihren Augen gehörte der Unterricht von Monsieur Turbing mit zu einer gewaltigen obskurantistischen Verschwörung. Unter seiner Fuchtel beschränkten sich die kreativen Möglichkeiten des Informatikraumes auf die einer Fließbandproduktion. Sein Unterricht beruhte einzig und allein auf Logo, einer Programmiersprache, deren Leistung darin bestand, eine sinnbildliche Schildkröte über den Bildschirm eines Commodore 64 zu bewegen.
Joyce verabscheute Logo, Fließbandproduktionen und Monsieur Turbings autoritäre Inkompetenz.
Als die Klingel den Beginn des Unterrichts einläutete, erklomm Joyce den Maschendrahtzaun, sprang auf der anderen Seite hinunter und suchte unter den gleichgültigen Blicken dreier Schüler, die hinter dem Müllcontainer einen Joint rauchten, das Weite.
Es war natürlich wesentlich einfacher, den Haupteingang zu nehmen, aber worin sollte der Reiz liegen, wenn man ganz ohne Stil schwänzte?
Die meisten Lastwagenfahrer, die durch Sept-Îles kamen, machten Halt im Restaurant Chez Clément, auf dem Boulevard Laure, um sich dort mit Diesel und Koffein einzudecken.Der Boulevard Laure war in Wirklichkeit die 138 und aller Verkehr der Basse-Côte-Nord führte notwendigerweise hier entlang. Kam man die Straße vom westlichen Ende hinauf, hatte der Boulevard nichts Außergewöhnliches an sich; doch kam man von Osten her, nach zweihundert Kilometern Moorlandschaft und dünngesäten Nadelbäumen, war es stets ein wenig schwindelerregend, auf diese Front aus Dunkin Donuts, Kentucky Fried Chicken und anderen McDonalds zu stoßen. Von diesem visuellen Großaufgebot geblendet, bemerkten die Autofahrer das Restaurant Chez Clément meist gar nicht. Für die Lastwagenfahrer hingegen war es eine obligate Oase, auf die sie sich schon über mehrere hundert Kilometer freuten.
An diesem Morgen waren nur zwei Lastwagen auf dem riesigen Parkplatz zu sehen. Joyce stieß die Tür zum Restaurant auf und genoss die unvergleichliche Atmosphäre, die hier herrschte: Tresen aus Holzimitat, Sitzbänke aus orangenem Vinyl, Plastikfarn, eine separate Salon-Bar mit gedämpftem Licht und der lokale Radiosender als Hintergrundgeräusch. Am Tresen saßen zwei Lastwagenfahrer und erzählten einander den morgendlichen Tratsch. Als eingefleischte CB-Funker gaben sie scheinbar stets darauf acht, den anderen nicht zu unterbrechen und legten zwischen zwei Wortmeldungen jeweils eine kurze Pause ein.
Joyce setzte sich in Hörweite der Trucker (es ging um einen dicken Chrysler, der in einem Brückengeländer feststeckte), während Francine ihr mit verschmitztem Lächeln wie gewohnt einen schwarzen Kaffee und die Morgenzeitung brachte.
Joyce zwinkerte ihr zu und trank einen Schluck Kaffee.
Die Titelseite der Zeitung berichtete vom Fall des Eisernen Vorhangs zwischen Österreich und Ungarn. Es gab kein Foto zu diesem Artikel und Joyce musste sich allein ausmalen, wie sich Tausende von DDR-Bürgern an der Grenze drängten. Weitere Meldungen waren eine Karambolage auf der 40
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