Dickner, Nicolas
geringen Wassertiefe nicht hinein konnten. Auf Providence herrschte keine Unterdrückung durch Peiniger jedweder Art, was in Joyce’ Augen auch sämtliche Onkels oder Cousins einschloss, womit zweifelsohne bewiesen war, dass es sich um eine ganz und gar andere Insel handelte.
Mit der Zeit kam in ihr der entschiedene Wunsch auf, diese Familientradition fortzuführen. Es schien ihr unangebracht, dass die Ur-Urenkelin von Herménégilde Doucette ihre Zeit mit dem Ausnehmen von Dorschen und der Erledigung ihrer Hausaufgaben in Mathe, Bio, Chemie und Physik verbrachte. Sie war dazu bestimmt, Pirat zu werden, Potzdonner!
Diese neu gefundene Berufung wurde jedoch gleich durch den Mangel an Vorbildern untergraben: In den Reihen ihrer Ahnen hatte die Familie Doucet keine einzige Seeräuberin aufzuweisen, keine rachsüchtige, mit einem Kurbelbohrer bewaffnete Ahnfrau, deren Röcke nach Pulverkammer und Jamaika-Rum rochen. Nicht einmal eine einfache Sparstrumpfdiebin. Sogar Großvater Lyzandre mit seinem enzyklopädischen Wissen konnte sich an keine einzige Piratin erinnern. Die Seeräuberei war Männersache. Joyce sah darin eine schwerwiegende Ungerechtigkeit: Warum durften Mädchen nicht auch plündern, Abenteuer erleben, Schätze vergraben und Gesetz und Galgen lauthals verlachen?
So blieb sie doch, als Gefangene ihrer ruhmlosen Familie, ihres straßenlosen Dorfes, ihres aussichtslosen Geschlechts und ihrer hoffnungslosen Zeit. Auf ihrem Posten am Strand der Île Providence beobachtete sie mit dem Feldstecher in der Hand die Containerschiffe, die im Kanal kreuzten. Sie transportierten nicht mehr das Gold und Silber aus Ostindien, sondern Weizen, Rohöl und endlose Papierrollen, die man nach New York brachte, um kilometerweise schlechte Nachrichten zu drucken.
In der heutigen Zeit wäre Herménégilde Doucette innerhalb von 48 Stunden an Neurasthenie gestorben.
In Tête-à-la-Baleine gab es nur eine Grundschule und jedes Jahr im September wechselte ein gutes Dutzend Jugendlicher an eine der weiterführenden Schulen in Havre-Saint-Pierre, Sept-Îles oder Blanc-Sablon. Die nächstjüngeren Jahrgänge, die zurückgelassen wurden, sahen voller Besorgnis und Ungeduld in die Zukunft.
An diesem Morgen hatte ein Junge gerade eine Welle der Begeisterung ausgelöst, da er erzählte, dass er eines Tages Hubschrauber fliegen würde wie sein Onkel Jacques. Ein anderer erklärte beteuernd, dass er Chefmechaniker auf dem Eisbrecher Des Groseilliers würde. Ein Dritter würde Ingenieur werden für so Dinger wie Großtechnik, Wackelbrücken und Motoren, Ingenieur eben. Joyce beteiligte sich selten an diesen Gesprächen. Es fragte diese kleine, sonderbare Cousine auch niemand nach ihrer Meinung und ihre Anwesenheit wurde, um ehrlich zu sein, so gut wie gar nicht bemerkt. An diesem Morgen jedoch, von plötzlicher Begeisterung erfasst, beging sie die Unvorsichtigkeit, den Mund aufzutun:
„Und ich werde Pirat!“
Fassungsloses Schweigen empfing diese Worte. Alle wandten sich Joyce zu, die entschlossen den Blicken standhielt. Sie löste oft diese Art von Überraschung aus, zum einen wegen des Unterschieds zwischen ihrer zierlichen Erscheinung und ihrer Selbstsicherheit, zum anderen wegen ihres Hangs zu so ausgefallenen und fernab der Realität liegenden Ideen, dass man sich fragte, in was für einer Welt sie wohl lebte. Sicherlich nicht in Tête-à-la-Baleine, soviel stand fest.
Einer ihrer Cousins, der noch nicht ganz über einige Schläge mit dem Kochtopf hinweggekommen war, ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, sie als Mannweib zu beschimpfen. Ein anderer Cousin wandte ein, sie sei zu dürr für einen Piraten.
„Als Pirat muss man vor allem ein Mann sein“, posaunte der älteste Cousin mit Nachdruck. „Deswegen hat dich deine Mutter auch verlassen. Sie wollte einen Jungen.“
„Meine Mutter ist tot!“, schleuderte Joyce ihrem Cousin entgegen und packte ihn am Kragen.
„Deine Mutter ist nicht tot. Sie ist abgehauen! Sie ist jetzt in New York!“
„Nein, in Toronto!“, widersprach ein anderer Cousin.
„In Vancouver!“
„Chicago!“
Derart von allen Seiten unter Beschuss genommen, geriet Joyce ins Schwanken. Im selben Moment wurde das Ende der Pause angekündigt und die Gruppe bewegte sich in Richtung Tür. Nach kurzem Zögern preschte sie in entgegengesetzter Richtung davon. Die Jungen sahen ihr nach, wie sie zum Friedhof davonlief, und hatten plötzlich das Gefühl, zu viel gesagt zu haben.
„Piraten“,
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