Dickner, Nicolas
murmelte einer von ihnen, „gibt’s doch eh nicht mehr.“
Joyce hatte das Grab ihrer Mutter noch nie besucht.
Dass sie am Kopf eines Kapelans erstickt war, erschien ihr eine unanfechtbare Tatsache. Um ganz ehrlich zu sein, es war ihr auch lieber, diese nicht anzufechten: Der spektakuläre Erstickungstod war Teil der Familienmythologie, die sich durch glorreiche Karrieren und ein ausgefallenes Ableben auszeichnete. Was nützte einem eine Mutter aus Fleisch und Blut, die sowieso nur meckerte und einen im Haushalt arbeiten ließ? Joyce hatte lieber eine unsichtbare und legendäre Mutter, eine, deren Bild sich mit dem von Herménégilde Doucette überlagerte, mit Onkel Jonas’ Postkarten, der Providence-Insel.
Sie ging über den Friedhof und las dabei sämtliche Grabinschriften. Sie stellte fest, dass in Entsprechung mit den Darstellungen ihres Großvaters etliche Doucets dort begraben worden waren, zumeist vor 1970. Dafür fand sie keinen einzigen Grabstein, der den Vornamen ihrer Mutter trug. Das verhieß nichts Gutes.
Beim Verlassen des Friedhofs wandte sie sich in Richtung Ufer.
Als sie das windschiefe Haus betrat, hatte Lyzandre Doucet soeben eine dampfende Teekanne auf den Tisch gestellt, fast als hätte er den Besuch seiner Enkelin vorausgeahnt. An diesem Tag wollte sie allerdings nicht über entfernte Ahnen oder Piraten des 17. Jahrhunderts reden: Sie verlangte, die Wahrheit über ihre Mutter zu erfahren.
Lyzandre Doucet hörte seiner Enkelin aufmerksam zu, weigerte sich jedoch, auf ihre zahlreichen Fragen zu antworten. Er kannte ihren leidenschaftlichen Charakter und fürchtete, sie könnte sich, erführe sie die Wahrheit, die Verantwortung für Geschehnisse geben, die sie überforderten. Einige Kinder neigen dazu, sich die Last der ganzen Welt auf die Schultern zu laden.
„Aber Opa“, insistierte Joyce, „wie lange soll ich meinen Cousins etwas entgegensetzen können, wenn ich ihnen nicht mal einen Grabstein zeigen kann?“
Nachdem er eine halbe Stunde lang auf diese Weise gequält worden war, gab Lyzandre Doucet letztlich zu, dass sich hinter der Geschichte vom Kapelanskopf ein Skandal verbarg, den sich ihr noch niemand zu erzählen getraut hatte: Ihre Mutter hatte es der restlichen Familie Doucet nachgetan. Ein paar Monate nach Joyce’ Geburt war sie ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund fortgegangen. Sie hatte ein Schiff in Richtung Westen genommen, aber niemand wusste, wohin genau. Einige behaupteten, sie sei nach Montréal gefahren oder sogar in die Vereinigten Staaten.
Joyce trank ihren Tee ohne etwas zu sagen. Diese Offenbarung verschleierte die Lage nur noch mehr. Wie sollte man herausbekommen, was wirklich passiert war? Es war sinnlos, die Leute um sie herum zu befragen: in Tête-à-la-Baleine waren die Antworten nicht mehr zu finden.
Mit gerunzelter Stirn dachte sie immer wieder an die ärgerliche Abwesenheit von Straßen auf den Seekarten ihres Vaters.
Fünf Jahre später verstarb Großvater Lyzandre, der letzte Doucet aus Tête-à-la-Baleine, an einem Hustenanfall. Dies war Joyce’ zweiter (und letzter) Besuch auf dem Friedhof des Dorfes.
Dem Anschein nach war sie nicht sehr betroffen, doch kam sie weiterhin zu Besuch in das Haus am Strand. Jeden Nachmittag setzte sie sich an den Küchentisch – genau an den Platz, an dem sie die Leiche ihres Großvaters gefunden hatte, die brav vor der Teekanne saß – und betrachtete Onkel Jonas’ Postkarten, die an die Küchenwände geheftet waren. Niemand hatte es gewagt, den Inhalt des Hauses anzurühren, so als wären die Bewohner alle von der Pest dahingerafft worden. Beim Durchsuchen des Familienkrempels hatte Joyce ihr Erbteil selbst an sich genommen: einen altertümlichen Seesack, der zweifelsohne dem Großvater ihres Großvaters gehört hatte.
Wenig später vernagelten Joyce’ Onkels Türen und Fenster mit alten Brettern.
Das Haus überlebte Lyzandre Doucet nur um ein paar Wochen. Sein altes Skelett, Opfer von Osteoporose im Endstadium, neigte sich immer weiter zum Meer. Es schien nur noch mit einem Faden am Ufer zu hängen. Die großen Springfluten des September spülten die ohnehin schwachen Wurzeln frei und eines Samstag morgens trieb es schließlich davon. Es driftete einen Moment lang auf dem Wasser, dann schlugen es die Wellen in Stücke und verteilten die Trümmer.
Die Brandung spülte lediglich Onkel Jonas’ Karten wieder an Land, gewellt und von blauroten Quallen bedeckt.
Joyce erfuhr von diesem Zusammenbruch
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