Dickner, Nicolas
die Schwärme von Fliegen, geht in die Hocke, hebt einen der Behälter vom Boden auf und riecht daran. Der Geruch ist ihr so vertraut, dass Joyce spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen.
Sie fasst sich wieder und schaut sich um. Auf der Fassade des nächststehenden Gebäudes springt ein riesengroßer Lachs in den Himmel, umgeben von einem Firmennamen in roten Neonbuchstaben: Fischhandlung Shanahan .
Sie fühlt sich sonderbar erleichtert.
Die Tür öffnet sich auf ein Geflecht aus Fühlern und Scheren – Hummer von Miscou für 10,99 $ das Pfund. Joyce bewundert das Hummerbecken einen Moment lang, dreht sich dann langsam um die eigene Achse und lässt den Blick schweifen: eingelegte Dorschleber, norwegischer Stockfisch, Wellhornschnecken in Lake, Knoblauchschnecken, gefriergetrockenete Garnelen, marinierter Hering bayerischer Art, Seepferdchen in Cajun-Soße – und mehrere mikroskopisch kleine Gläser leuchtend oranger Kaviar unter Verschluss in einem maßgefertigten Schrank, unerschwinglich wie Uran 237.
Hinter der verglasten Verkaufstheke liegen Dutzende Arten von Meeresgetier auf einem Bett aus zerstoßenem Eis. Joyce hat die meisten dieser Fische bisher nur in den Büchern ihres Vaters gesehen: Thunfische, Goldbrassen, Seebarben, Meeräschen, Zackenbarsche, Miesmuscheln, Krebse, riesige Kammmuscheln und winzige Hammerhaie.
Hinter der Theke reden zwei Männer miteinander auf Spanisch. Der Größere kommt auf sie zu, während er sich die Hände abtrocknet. Er mustert Joyce von Kopf bis Fuß.
„Du kommst wegen der Stelle?“, fragt er mit kubanischem Akzent.
„Der Stelle?“
„Lebenslauf dabei? Nein? Kein Lebenslauf? No importa . Hast du wenigstens schon mal in einem Fischladen gearbeitet?“
„Ein bisschen“, stammelt sie zögerlich, irritiert von der Wendung des Gesprächs.
„Ein bisschen? Was soll das heißen, ein bisschen ? Hast du vielleicht Sardinen gestapelt im Supermarkt?“
Joyce verzieht das Gesicht. Man beleidigt nicht ungestraft die Ur-Ur-Enkelin von Herménéglide Doucette! Sie will ihm schon einen Miscou-Hummer in die Visage schleudern und den Rückzug antreten, als der zweite Mann seinen Lappen weglegt und mit in die Hüften gestemmten Händen auf sie zutritt. Im Fischgeschäft breitet sich eine Stille aus, die eines Sergio Leone würdig wäre. Mit einer energischen Geste bedeutet er Joyce, auf die andere Seite der Theke zu gehen. Er nimmt einen sonderbaren orangefarbenen Fisch vom Eis, legt ihn auf das Schneidebrett und zieht ein Messer aus dem Futteral.
„Filetier den mal!“
Joyce kann es kaum glauben, dass sie, zehn Minuten nach ihrer Ankunft in Montréal, mit einem Fisch in den Händen, von zwei inquisitorischen Latinos auf die Probe gestellt wird. Sie seufzt, nimmt das Messer und prüft die Schneide mit dem Daumen. Dann geht alles sehr schnell: sie schneidet der Seebarbe den Kopf ab, entfernt Brust- und Rückenflossen, macht einen feinen Einschnitt den Rücken entlang, erfühlt mit der Messerspitze die Mittelgräte und teilt – behende wie ein Samurai – den Fisch mit einem Schnitt in zwei Hälften. Die Klinge gleitet die Wirbel entlang, einmal hin und zurück, und Joyce lässt das freigeschnittene Skelett, klebrig-glänzende Jade, nonchalant in den Müll plumpsen.
Fünfzehn Sekunden, keinen Moment länger.
Die beiden Männer begutachten die Filets mit beifälligem Nicken.
„ ¡Vale! Kannst du morgen früh anfangen?“
Joyce verlässt die Fischhandlung Shanahan mit der Weisung, sie möge am nächsten Morgen um neun Uhr wiederkommen, pünktlich. Sie überquert die Straße und schnuppert, nachdem sie sich vergewissert hat, dass niemand sie sieht, an ihrer Hand, um den Geruch des Fischblutes zu riechen. Mit geschlossenen Augen, könnte sie sich wieder in der Küche ihres Vaters in Tête-à-la-Baleine glauben.
Ein blau-weißes Aufblitzen holt sie jäh aus ihrem Traum zurück.
Ein Polizeiauto fährt mit der geräuschlosen Langsamkeit eines Haies an ihr vorüber. Der Fahrer dreht den Kopf in ihre Richtung – Blick eines Knorpelartigen hinter getönten Brillengläsern. Ein Schaudern durchzieht Joyce vom Steiß bis zum Nacken.
Das Auto fährt weiter und verschwindet in Richtung Süden.
Joyce seufzt erleichtert auf. Sie schaut auf die Uhr: Es wird langsam spät. In der Glastür eines alten Gebäudes fällt ihr Blick auf ein rotes Pappschild. Zu Vermieten, Wohnung 1 Zimmer m. Bad, möb., warm, hell , frei ab sofort , melden bei Hauswart i.Untergeschos.
Sie wagt
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