Dickner, Nicolas
erst drei Monate später. Zu dem Zeitpunkt, als das gesamte Dorf die seit Jahrzehnten angesammelten Wetten über das Schicksal des Hauses beglich, befand sich Lyzandre Doucets Enkelin bereits in Sept-Îles und war voll und ganz von ihrem Eintritt in die Oberschule beansprucht. Sie hatte lange auf den Moment gewartet, endlich von ihren Onkeln, Tanten und Cousins befreit zu sein. Doch hatte sie nicht mit der wohlwollenden Fürsorge ihres Vaters gerechnet: Ein einziger Anruf genügte und schon hatte er ihr eine Unterkunft beschafft – dergestalt, dass ein Onkel und eine Tante aus einer dunklen Ecke der Verwandtschaft zum Vorschein kamen, die am Quai von Havre-Saint-Pierre auf Joyce warteten.
Das Auftauchen dieser entfernten Verwandten glich einem Donnerschlag. „War diese Familie wirklich überall?“, fragte sich Joyce und hob die Arme zum Himmel. Musste sie bis nach Wladiwostok flüchten, um den Tentakeln dieses Stammbaums zu entkommen?
Über die Reling des Nordik Express gebeugt, suchte sie mit den Augen die kleine Menschenmenge ab, die im prasselnden Regen ausharrte. Sie hatte die beiden neuen Protagonisten noch nie gesehen und verfügte auch über kein Foto, um sie erkennen zu können. Schließlich entdeckte sie einen dicken Mann unter einem grünen Regenponcho, der ein aufgeweichtes Pappschild schwenkte mit der Aufschrift: Joice . An seiner Seite stand eine kleine Frau im gelben Regenmantel, in einer Hand ihren Regenschirm, in der anderen eine Frischhaltedose mit Sucre à la crème.
Joyce dachte sich, dass es ein Leichtes wäre, ihnen direkt vor der Nase auszubüxen, ohne dass sie etwas davon merkten. Sie schaute hinauf in den Himmel. Die Nachläufer des Sturmtiefs Paloma aus den Bahamas hatten soeben die Nordküste des Sankt-Lorenz erreicht. Regen und Sturmböen würden noch für zwei Tage andauern.
„Schlechter Zeitpunkt zum Abhauen“, eruierte Joyce, als sie die Landungsbrücke hinunterstieg.
Sie warfen den alten blauen Seesack von Großvater Doucet hinten in den orangefarbenen Chevrolet Suburban und fuhren los in Richtung Sept-Îles. Mit dem Mund voller Sucre à la crème antwortete Joyce mechanisch auf die Fragen ihrer neuen Tante. (Ja, sie habe eine gute Reise gehabt. Ja, sie freue sich auf die neue Schule. Ja, ihrem Vater gehe es gut, er lasse übrigens herzlich grüßen.)
In Wirklichkeit dachte sie nur an eine einzige Sache: die 138. Wie hypnotisiert starrte sie in die Spiegelungen des Scheinwerferlichts auf dem nassen Asphalt. Sie verließ endlich die Seekarten ihres Vaters, um sich in eine nicht kartografierte Welt vorzuwagen, in der mit aller Wahrscheinlichkeit zwar überall unbekannte Gefahren lauerten, in der man aber so viele Straßen benutzen konnte, wie man wollte. Später würde sie verstehen, dass sich diese Freiheit lediglich auf die 138 beschränkte – doch im Augenblick sah sie voller Bewunderung die kleinen Dörfer vorbeiziehen: Rivière-à-la-Chaloupe, Rivière-aux-Graines, Manitou, Rivière-Pigou, Matamec und später das Reservat von Maliotenam.
Hätte sie am Lenkrad des orangefarbenen Suburban gesessen, sie wäre weiter nach Tadoussac, Pointe-au-Pic und Québec bis hin zur weit entfernten Insel Montréal gefahren, wo die 138 zur Rue Sherbrooke wurde und in die Mysterien der Großstadt eintauchte.
Weil aber die feuchten Hände ihres Onkels das Steuer hielten, war die Fahrt in Sept-Îles zu Ende.
Fünf Jahre vergingen.
Fünfzigtausend Schultage.
Zwei Millionen Stunden Kramer’sche Regel, Relativpartikel und Resumptivpronomen, Friede von Utrecht, Molekularmasse des Kaliumnitrats, Antiklinale und Synklinale, konstante Beschleunigung im luftleeren Raum, Bruttoinlandsprodukt.
Druckdicht eingeschraubt in ihre Taucherglocke ersehnte Joyce das Ende der Etappe.
Als sie siebzehn wurde, verkündete man ihr, sie müsse den Beruf wählen, den sie für den Rest ihres Lebens auszuüben gedachte – das erklärte zumindest Monsieur Barrier, der Berufsberater der Schule. In seinem gelbgrauen Büro empfing er die Schüler, einen nach dem anderen, mit ernster Miene wie ein Rekrutierungsoffizier. Größe, Gewicht, Gesundheitszustand, Psychogramm, Einstellungen und Fähigkeiten – die Schüler defilierten, der Berater beriet.
Joyce stellte einen Problemfall dar. Eingeschränkte soziale Fähigkeiten, Autoritätsverweigerung, Aufmüpfigkeit – dessen ungeachtet erbrachte sie in allen Fächern vortreffliche Leistungen – und diese Vortrefflichkeit verbot es, sie einfach aufs Abstellgleis zu
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