Dickner, Nicolas
winziger Steckbrief, der eine Belohnung von 16 Kopeken auf den Kopf des erbitterten Bolschewiken versprach. Mit weit aufgerissenen Augen starrte Joyce auf die strengen Gesichtszüge des Lastwagenfahrers. Es gibt keinen Zweifel: Da steht Wladimir Lenin auf dem Parkplatz eines Truckstops in Sept-Îles um Viertel vor sechs Uhr in der Frühe. Der Anachronismus bringt sie zum Lachen. Dann wird sie wieder ernst. Und wenn Onkel Jonas, dieser Schlawiner, den Schneid hatte, sich mit vierzehn auf den vereisten Quais von Leningrad herumzutreiben, wer sollte Joyce – eine ebenso waschechte Doucet – daran hindern, es ihm gleichzutun?
Sie atmet tief ein und wagt einen Schritt auf Wladimir Lenin zu.
„Nach Montréal, können Sie mich da mitnehmen?“
Providence
Neben Joyce stapeln sich Bestimmungsbücher für Meeressäuger, Posterrollen und haufenweise Prospekte. Die Frau am Lenkrad steuert den Wagen geschickt durch den Feierabendverkehr, während ihr Beifahrer, vertieft in einen Montréaler Stadtplan von 1979, die Einbahnstraßen verflucht.
Das Paar hatte Joyce sieben Stunden zuvor auf dem Fährschiff nach Tadoussac aufgefischt. Sie hatte Glück, denn die beiden fuhren just nach Montréal, um dort eine Konferenzreihe über die Wale im Mündungsgebiet zu veranstalten. Die Frau fuhr mit großer Gelassenheit, hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und lenkte mit dem Knie, während ihr Begleiter Joyce die subtilen Mechanismen des Atmungszyklus beim Pottwal erklärte.
In Québec bestanden die beiden darauf, Joyce zum Abendessen einzuladen. Später nickte sie auf einigen Stapeln Prospekten ein und wachte erst wieder auf, als sie sich bereits im Zentrum von Montréal befanden.
„Endhaltestelle!“, verkündete die Frau fröhlich. „Wo sollen wir dich rauslassen?“
„Ganz egal!“, antwortete Joyce und zuckte mit den Achseln.
Die Frau lächelt ihr im Rückspiegel zu, schert plötzlich aus, zieht quer über die rechte Spur und bringt den alten blauen Hyundai neben einer Metrostation zum Stehen. Joyce schnappt sich ihren Seesack, die Autotür schlägt zu, und da steht sie nun – allein in Babylon.
Sie reibt sich die Augen und sieht den Namen der Station. Jean-Talon. Das sagt ihr nichts.
Wo anfangen? Sie blickt sich um, entdeckt eine Telefonzelle. Sie schiebt die Tür auf und wuchtet das Telefonbuch nach oben. Eine leichte Unsicherheit macht sich in ihr breit: Sollte sie die Montréaler Bevölkerung unterschätzt haben? Ihre Finger blättern in aller Schnelle durch die Seiten. Dombrowski, Dompierre, Donati . . . Doucet. Der Vorname ihrer Mutter taucht nicht auf – nicht mal eine Doucet F.
Das Montréaler Telefonbuch ist genauso leer und verlassen wie der Friedhof von Tête-à-la-Baleine.
Auf wackeligen Beinen tritt Joyce aus der Telefonzelle, ihr Magen zieht sich zusammen. Das Ziel ihrer Flucht scheint ihr nicht mehr so klar wie noch an diesem Morgen. Die Sonne am Ende des Boulevards beginnt langsam zu sinken. Bald wird es Nacht sein und sie fühlt sich plötzlich sehr, sehr einsam.
Sie rückt den Seesack auf ihrer Schulter zurecht und läuft einfach drauflos.
Zwei Straßenecken weiter erreicht sie den Marché Jean-Talon. Die Luft ist süßlich-klebrig, schwer beladen mit Säften und Düften, Schwaden von Alkohol, Pollen, Verwesung und Motoröl.
Perplex hält Joyce inne.
Zum ersten Mal in ihrem Leben sieht sie so viel Müll auf einem Haufen.
Sie kann sich von dem Anblick der zerquetschten und zu triefenden Blöcken zusammengeschnürten Obstkisten, Kartons und miteinander vermengten Gemüseabfälle nicht losreißen. Sie betrachtet die bunten Schichten aus Kräutern, Blättern, Strünken, Mangos, Weintrauben, Ananas, durchzogen von den Wortfetzen: Orange Florida Lousiana Nashville Pineapple Yams Mexico Avocado Manzanas Juicy Best of California Farm Fresh Product Category No. 1 Product of USA .
Ihren Gipfel erreichte diese Anhäufung von Abfällen auf der anderen Seite des Marktes. Zwei Müllmänner sind damit beschäftigt, einem Müllwagen kistenweise Blumen in das aufgerissene Maul zu werfen. Von Zeit zu Zeit senkt sich der gewaltige stählerne Kiefer des Monsters, zerkaut die Masse aus Karton und Blättern und schluckt sie ohne viel Aufhebens hinunter.
Joyce stiert auf den Wagen, vollends fasziniert von all dem Müll. Noch nie zuvor hatte sie ein solches Gefühl von Überfluss empfunden.
Unvermittelt bebt ihre Nase. Sie senkt den Blick und entdeckt einige Styroporkistchen mit hellrosa Flecken. Sie verjagt
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