Dickner, Nicolas
und John Turners Rücktritt als Parteivorsitzender. Einige Seiten weiter wurde eine erneute Senkung der Fangquoten für Dorsch angekündigt. Joyce’ Onkel würden zweifelsohne noch einige Wochen lang dagegen wettern – und auf einmal war sie sehr froh darüber, nicht mehr für sie kochen zu müssen.
Plötzlich, unten auf Seite 54, eingequetscht zwischen zwei Anzeigen für Ferngesprächstarife, sprang ihr eine Kurzmeldung ins Auge:
FBI verhaftet bedeutende Piratin
Chicago – Nach monatelanger Fahndung fasste das FBI die Anführerin eines bedeutenden Piraten-Netzwerks.
Dem FBI gelang gestern die Inhaftierung von Leslie Lynn Doucette (35), der Anführerin des größten Piraten-Netzwerks, das jemals in den USA zerschlagen wurde.
Doucette, auch bekannt unter dem Pseudonym Kyrie, wird beschuldigt, sich über das Telefonnetz illegalen Zugang zu zahlreichen „Datenleitungen“ verschafft zu haben. Schätzungen zufolge konnten Doucette und mehr als 150 Komplizen über die angezapften Leitungen in den Besitz hochsensibler Informationen zu Kredit- und Prepaidkarten kommen. Das FBI stellte mehrere hundert Kreditkartennummern und Sicherheitscodes zu gewerblichen Telefonnetzwerken sicher. Der Schadenswert wird auf 1,5 Millionen US-Dollar geschätzt. Die Kanadierin Doucette war 1987 in die USA geflohen, nachdem sie in Kanada für ein ähnliches Vergehen verurteilt worden war. Die zweifache Mutter lebt seit mehreren Jahren in Chicago.
Die Tasse Kaffee blieb reglos vor Joyce’ Mund schweben. Die Welt um sie herum drehte sich im Zeitraffer. Geräusche erreichten sie nur noch fetzenweise, seltsam entfremdet. Die Zeit war stehengeblieben. Nichts in der Welt hatte noch Bedeutung außer dieser Epiphanie in 40 Zeilen unten auf Seite 54.
Joyce schüttelte sich schließlich und sah auf die Uhr. Die Zeit setzte ihren Lauf fort – sie schien sogar ein wenig beschleunigt. Die beiden Trucker bezahlten ihren Kaffee, ließen deutlich hörbar etwas Trinkgeld auf dem Tisch aus Holzimitat klimpern und machten sich wieder auf den Weg, der eine nach Havre-Saint-Pierre, der andere nach Montréal.
Joyce riss den Artikel sorgfältig aus, steckte ihn sich in die Brusttasche und ging zurück zur Schule.
Es ist noch dunkel, als Joyce am nächsten Morgen gegen 5:40 Uhr bei Clément eintrifft.
Diverse Kraftstoffe schwängern die Luft – Bleifrei, Diesel, Schinkenspeck – und die Tanksäulen scheinen im Schein der Leuchtstoffröhren zu vibrieren. Im Westen sind die letzten Sterne verschwunden. Ein Dutzend Lastwagen stehen im Halbschatten, die Motoren im Leerlauf, die Scheinwerfer auf Standlicht. Alles ist ruhig. Einige Fahrer schlafen noch in ihrer Kabine, andere trinken den ersten Kaffee am Tresen des Restaurants. Ein Fahrer hat die Motorhaube seines LKW geöffnet und prüft, mit einer Taschenlampe zwischen den Zähnen, den Ölstand.
Ohne zu zögern nähert sich Joyce dem Lastwagen. Als der Fahrer sie näher kommen sieht, leuchtet er ihr mit der Taschenlampe direkt ins Gesicht.
„Was willst du?“, knurrt er.
Er scheint nicht besonders pflegeleicht zu sein. Joyce weicht vorsichtshalber einige Schritte zurück und denkt kurz daran, kehrtzumachen, zurück ins Bett zu gehen – unter der Decke wäre es vielleicht noch warm – und die ganze Geschichte einfach zu vergessen.
Sie will sich gerade geschlagen geben, als ein Detail sie erstarren lässt: Aus einem bestimmten Winkel betrachtet erinnert sie der Kopf des Lastwagenfahrers – eingefallene Wangen, Kinnbart, fortgeschrittene Glatze – stark an jemanden. Aber an wen? Ihre Erinnerungen ziehen vorbei wie die Karten in den Katalogkästen einer Bibliothek. Zwanzigstes Jahrhundert. Politiker. Russland. Revolution. Kinnbart.
Joyce erinnert sich plötzlich mit irrealer Genauigkeit an den Ort, an dem sie dieses Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte: auf einer Postkarte von Onkel Jonas!
Über viele Jahre hatte diese Karte in der Küche der Doucets gehangen gleich neben dem King-Cole-Kalender. Sie war im November 1964 in der UdSSR abgeschickt worden, denn die einzigen lesbaren Worte waren die des Poststempels:– Leningrad – 13 XI 1964. Jedesmal, wenn sie diese Karte sah, stellte sie sich ihren Onkel Jonas vor, wie er mit eingefrorenem Kinnbart mitten im heftigsten Schneetreiben einen völlig verdutzten Schauermann nach dem Weg zum nächsten Briefkasten fragt.
Auf der Rückseite der Karte befand sich eine scharlachrote Briefmarke mit dem Antlitz Wladimir Lenins, die dort klebte wie ein
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