Dickner, Nicolas
Zi.) sucht MitbewohnerIn, Petite Italie, NR, k. Tiere, ab sofort, Vorrang f. politisch Verfolgte, Tel. c/o Fischhandlung Shanahan (nach Maelo fragen).
Die Selbstgespräche am Nachbartisch werden hitziger, ein imaginärer Gesprächspartner wird nachdrücklich mit dem Zeigefinger bedroht. Noah liest die Anzeige ein zweites und drittes Mal und befindet, dass dies das ideale Angebot ist. Er fischt eine Handvoll Kleingeld aus den Tiefen seiner Hosentasche und macht sich auf die Suche nach einer Telefonzelle.
Nach dreimaligem Läuten hebt eine junge Frau ab. Sie hat eine nervöse Stimme und einen sonderbaren Akzent. Noah fragt nach Maelo.
„Ich rufe an wegen der Vierer-WG. Ist das Zimmer noch frei?“
„Das ist noch frei“, bestätigt Maelo. „Du weißt, politisch Verfolgte haben bei mir Vorrang.“
„Ich komme aus Alberta“, stammelt Noah.
„Okay“, antwortet Maelo und scheint soweit zufrieden. „Willst du um halb sechs mal vorbeikommen?“
Sternrochen, Regenbogen-Stint, Stör, Hering, Sardine, Meerforelle, Aal, Dorsch, Wittling, Dreibärtelige Seequappe, Petersfisch, Gestreifte Meerbarbe, Meeräsche, Dicklippige Meeräsche, Echter Bonito, Schwertfisch, Großer Rotbarsch, Kleiner Rotbarsch, Zwergbutt, Seehase, Rotzunge, Falsche Rotzunge, Makrelenhecht – die Wohnung wimmelte von Fischen. Sie schwammen überall an den Wänden, als Poster, als Postkarten oder als Miniaturmodelle aus verschiedenfarbigem Gummi.
Die Räume sind sauber, aufgeräumt – aber Noah hat nur Augen für die Fische. War er etwa an eine Art Fischfanatiker geraten?
„Es ist das erste Mal seit zehn Jahren, dass das Zimmer frei ist“, erklärt Maelo. Ich habe immer mit ungefähr zehn Cousins zusammengewohnt. Jeden Monat kam ein neuer dazu. Abends mussten wir uns immer etwas einfallen lassen, um alle unterzubringen. Auf dem Sofa schlief jemand, auf dem Boden, unterm Tisch. Wir wechselten uns mit Schlafen ab.“
Noah machte große Augen. Konnte man so viele Cousins haben, dass sie ausreichen, um eine Wohnung wie diese zu bevölkern?
„Und wo kamen die alle her?“
„Aus San Pedro de Macorís in der Dominikanischen Republik. Meine ganze Familie kommt von da. Fünf Generationen Guzman in direkter Abfolge. Mein Ur-Großvater hat die Stadt gegründet, aber heute gehen meine Cousins lieber nach New York oder Montréal.“
„Gefällt es ihnen in San Pedro nicht?“
„Im Gegenteil, wir alle lieben San Pedro. Aber man verdient hier besser. Folge: Großmutter Úrsula ist die einzige, die im Haus der Familie geblieben ist. Dreiundneunzig, störrisch wie eine Schildkröte. Sie hat sich nie weiter als fünf Kilometer vom Meer entfernt. Ach ja, das hier wäre dein Zimmer. Es ist nicht besonders groß, aber . . .“
Noah wagt einen Schritt hinein. Nicht besonders groß? Dieses Zimmer ist alleine schon so groß wie der gesamte bewohnbare Raum im alten silbernen Wohnwagen. Er fühlt sich wie ein Kosmonaut, der eine Runde um seine Sojus dreht und überall um sich herum nur Leere sieht: Millionen von Sternen, endloser Raum und Übelkeitsanfälle. Er hält sich am Türrahmen fest.
„Ach übrigens, warum ziehst du denn nach Montréal?“
„Ich studiere hier Archäologie“, antwortet Noah mit einem Schluckauf und wischt sich den Schweiß aus dem Nacken.
„Archäologie? Super, ich werde mit einem Intellektuellen zusammenwohnen! Also, wenn du das Zimmer nehmen willst, ist es deins. Normalerweise würde ich 170 nehmen, plus Strom, aber für dich mach’ ich 160.“
„Wann kann ich denn einziehen?“
„Sofort. Hast du viel zu transportieren?“
„Ist alles hier drin“, antwortet Noah und klopft seitlich an seinen Rucksack.
Maelo blickt lächelnd auf das Gepäckstück.
„Da haben wir es mit einem wahrhaftigen Flüchtling zu tun! Ich werde dir Bettzeug holen.“
Die Matratze ist verbeult, das Kissen ganz platt und die Tagesdecke mit Seesternen verziert – aber das hindert niemanden daran zu schlafen. Sobald das Bettzeug auf der Matratze liegt, wird der Einzug in die WG mit der Zahlung der ersten Monatsmiete offiziell gemacht – eine Ausgabe, nach der Noahs Finanzlage durchaus als kritisch zu betrachten ist.
Preisfrage: Wie soll Noah es fertigbringen, in einem so großen Raum einzuschlafen?
Auf die Seesterne gebettet, hört er, wie rund um sein Bett herum die Luft schwirrt, wie jede kleine Schallwelle an den Wänden abprallt und sich verstärkt. Er hat noch nie einen Raum für sich alleine besessen – abgesehen von der
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