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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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sich vor i.Untergeschos und zögert zwischen dem Heizkeller und einer Tür ohne Aufschrift. Sie klopft an beiden. Gähnend öffnet ihr der Hauswart. Aus seiner Wohnung strömt eine Wolke Kraft Dinner.
    „Ich komme wegen der 1-Zimmerwohnung“, erklärt Joyce.
    Der Hauswart starrt sie an, ohne etwas zu sagen und kratzt sich rund um den Bauchnabel. Er steht in den Türrahmen gelehnt, wodurch der Blick in seine winzige Wohnung frei wird: auf dem Boden Berge dreckiger Wäsche, leere Pizzakartons, ein Kleiderschrank mit drei verrosteten Waschbecken darin, ein unordentlicher Werkzeugkasten – und ein voll aufgedrehter Fernseher, in dem eine alte Folge von Miami Vice läuft.
    „Hast du Arbeit?“, murmelt er schließlich und schabt mit den Fingern geräuschvoll durch seinen Dreitagebart.
    „Im Fischladen Shanahan, direkt gegenüber, auf der anderen Straßenseite.“
    Er zieht die Nase hoch, schnappt sich einen schweren Schlüsselbund, und ohne ein weiteres Wort geht er Joyce voran ins Treppenhaus. Sie steigen hinauf in die dritte Etage und bleiben vor der Wohnung mit der Nummer 34 stehen. Die Tür sieht aus, als sei sie schon einige Male mit dem Brecheisen geöffnet worden. Der Hauswart sucht ungeduldig an seinem Schlüsselbund herum. Wutschnaubend geht er dazu über, alle Schlüssel einzeln auszuprobieren. Endlich gibt das Schloss rasselnd und knarrend nach.
    Das Innere der Wohnung kann mit dem äußeren Eindruck in allen Punkten mithalten: Die Hälfte der Schrankgriffe fehlen, eine Glühbirne baumelt aus ihrer Fassung heraus, freigelegter Sehnerv im leeren Raum, kränkliche Lotosblumen zieren das Fenster, die Toilette ist winzig, der Kühlschrank stammt noch aus der Zeit der ersten Apollo-Raketen, die Wände sind übersät mit Brandflecken von Zigaretten – und was den Teppich angeht, so glänzt er durch farbliche Unentschiedenheit, mit Tendenz ins Sowjetgrüne. Ein unangenehmer, stickiger Geruch rundet das Bild ab: abgestandene Luft, Schimmel und scharfer Teppichreiniger.
    Joyce betrachtet das Zimmer mit beseeltem Lächeln, verblendet durch die schiere Aussicht darauf, eine kleine Providence-Insel für sich zu haben.
    „Ich nehme sie“, stammelt sie und stellt Großvater Lyzandres Seesack auf den Boden.
    Der Hauswart grunzt einmal kurz – „einmal grunzen heißt ja, zweimal grunzen heißt nein“, folgert Joyce – und geht wieder nach unten, um einen Vertrag zu holen.
    Kaum dass sie alleine ist, zieht sie den ausgerissenen Artikel über Leslie Lynn Doucette aus der Tasche, streicht ihn auf einem Bein glatt und heftet ihn mit einer alten, herumliegenden Reißzwecke an die Wand.

Politisch Verfolgte haben Vorrang
    Rue Sainte-Catherine. An einem Tisch aus falschem Marmor mit eingetrockneten Kaffeepfützen steckt Noah seinen ersten Brief an Sarah in den Umschlag. Er schiebt die gestapelten Gläser zur Seite, faltet die Straßenkarte von Manitoba auseinander und betrachtet, mit seinem Füller zwischen den Zähnen, die Landschaft.
    Sarah befindet sich im südlichen Teil der Provinz, irgendwo in diesem Puzzle aus Dörfern, Straßen vom Reißbrett und Flüssen, die aus Mangel an Hindernissen über Hunderte von Kilometern schnurgeradeaus fließen. Alle Ecken auf der Karte sehen gleich aus – aber Sarah kann nicht überall zur gleichen Zeit sein. Wohin soll der Brief gehen? Manitou, Grande Clairière, Baldur? Nach einigen undurchsichtigen Berechnungen schreibt Noah die Adresse der Poststelle in Fertile auf den Umschlag.
    Am Nachbartisch führt ein Penner mit einer Maple Leafs-Mütze auf dem Kopf Selbstgespräche. Noah wundert sich über gar nichts mehr. Er hat den Eindruck, dass in Montréal sich alle mit sich selbst unterhalten. Er leckt den Kleberand des Umschlags an, faltet ihn sorgfältig zu und wischt eine kleine Perle Spucke ab, die auf dem Papier saß.
    Bleibt noch der schwierigste Teil: die Adresse des Absenders anzugeben.
    Noah breitet das Journal de Montréal auf der Straßenkarte aus, öffnet es unter der Rubrik Mietangebote und studiert die Spalten voller kryptischer Abkürzungen und unbekannter Stadtviertel. Als jemand, der vor weniger als 48 Stunden in Montréal aufgelaufen ist, hat er von der örtlichen Geographie keinen Schimmer. Mile-End, Hochelaga, Longueil – wo soll er wohnen? Schließlich gibt er es auf und setzt mit geschlossenen Augen den Zeigefinger zufällig irgendwo auf der Seite ab. Als er die Augen öffnet, befindet sich sein Finger mitten auf einer höchst verwunderlichen Anzeige:
    WG (4

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