Dickner, Nicolas
zwergenhaften Schlafkoje im silbernen Wohnwagen – und er zweifelt daran, mit seinen mageren Besitzständen 30 Kubikmeter Kosmos ausfüllen zu können: drei Straßenkarten, ein paar Kleider, ein Schreibblock und ein altes Buch ohne Deckel. Er fühlt sich, um ganz ehrlich zu sein, unwürdig, diesen Raum zu belegen, als fürchte er, etwas zu vergeuden. Aber was genau vergeudete er denn? Freien Raum? Einige Kubikzentimeter Luft? Leere?
Kann man Leere vergeuden?
Maßstab 1:1
Der Rote Thunfisch (Thunnus thynnus L.) ist ein erstaunliches Tier.
Ein Weibchen von einer gewissen Größe kann bis zu fünfundzwanzig Millionen Eier legen. Die Üppigkeit dieses Geleges gibt Aufschluss über die Gier der Fressfeinde: Jede der winzig kleinen Larven hat eine Chance von eins zu vierzig Millionen, acht Jahre später das Erwachsenenalter zu erreichen. Die Überlebenden werden prächtige Tiere: Ein fünfzehnjähriger Thunfisch kann gut und gerne drei Meter lang und 300 Kilo schwer werden. Einzelne Exemplare bringen (wenn auch selten) über 700 Kilo auf die Waage – und werden daher, nicht ohne eine gewisse Beobachtungsgabe, als Riesen bezeichnet.
Thunfische leben in Schwärmen und gruppieren sich je nach Größe: Je kleiner sie sind, um so mehr Individuen bilden eine Gruppe. Die Riesen hingegen sind meist allein unterwegs. Sie sind ausgezeichnete Schwimmer und legen, folgend dem Lauf der Jahreszeiten, riesige Distanzen zurück: Den Sommer verbringen sie unter dem Polarkreis, im Winter ziehen sie sich in tropische Gewässer zurück und wechseln von einer in die andere Erdhälfte mit derselben Leichtigkeit, wie wir von Stadtviertel zu Stadtviertel. Einige Exemplare, die auf den Bahamas markiert worden waren, fand man später in Norwegen oder in Uruguay wieder.
Zur Bildung von einem Kilo Eiweißmasse muss ein Roter Thunfisch acht Kilo Heringe verzehren, die sich ihrerseits zuvor 70 Kilo Krabben einverleibt haben, die wiederum um die 200 Kilo Phytoplankton verzehren mussten. Entgegen allem Anschein entsprechen die 2500 Gramm Thunfisch, die im Fischgeschäft auf dem Eis liegen, im Großen und Ganzen einer halben Tonne Plankton – beängstigende Gleichung, die so manchen Kunden Reißaus nehmen ließe, hätte man die Unverfrorenheit, ihn darüber aufzuklären.
„Goldene Regel für alle Fischverkäufer“, erklärt Maelo, „vor Kunden nie das Thema Nahrungskette ansprechen. Wir sind hier nicht in Japan.“
Denn wie jeder weiß, lassen sich die Bewohner des Landes der aufgehenden Sonne durch nichts erschüttern, sind jedem Anblick gewachsen und ersteigern ihren Thunfisch direkt auf dem blutüberströmten Kai. Die Kundschaft der Fischhandlung Shanahan hingegen ist, wie soll man sagen, etwas zarter besaitet und besteht vornehmlich aus Vorstädtern aus Laval-des-Rapides, Chomedey oder Duvernay. Doch darf man sich von ihrem harmlosen Äußeren nicht blenden lassen: Einige Schätzungen besagen, dass der Bestand an Rotem Thunfisch im Atlantik seit 1970 um 87 % zurückgegangen ist, ein Prozentsatz, der ziemlich genau mit dem Wachstum der Vorstädte im gleichen Zeitraum übereinstimmt.
„Daraus kann man also ableiten“, folgert Maelo, „dass die Ausweitung der Städte sehr genau dem Verlauf der großen Fischzüge folgt.“
Er schneidet einen hauchdünnen Streifen rohen Fisch ab, legt ihn sich in den Mund und kaut mit vielsagendem Blick. Er scheint hin- und hergerissen zwischen seiner respektvollen Bewunderung für die Riesen und dem feinen Geschmack ihres Fleisches – ein auswegloses Dilemma. Er schüttelt den Kopf, legt das Messer weg. Die Sashimi-Stunde ist beendet.
Fünfzehn Minuten Pause. Joyce gießt sich dominikanischen Kaffee ein – schwarz, mit zu viel Zucker – und setzt sich in die Tür fürs Personal, die Füße auf einer leeren Muschelkiste.
Schlückchen Kaffee, schmales Lächeln.
Sie betrachtet das bereits vertraute Gewimmel auf dem Marché Jean-Talon. Was ihr vor einigen Tagen noch als übermäßig vorkam, hat normale Proportionen angenommen – Maßstab 1:1. Seit sieben Tage ist Joyce jetzt abgehauen und sie gewöhnt sich an ihre neue Routine. Sie erscheint pünktlich bei der Arbeit, lächelt auch bei den launischsten Kunden und lernt beflissen Thekenspanisch. Sie setzt alles daran, eine Vorzeigeangestellte zu werden, in der Masse des Sardinenschwarms unterzutauchen, sich im Ökosystem zu verlieren.
Goldene Regel beim Abhauen: Alles steht und fällt mit der Tarnung.
In dieser Hinsicht hätte Joyce von ihrer Mutter
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