Dickner, Nicolas
Nachbarn beschwerten sich wegen des Lärms – und das Jututo wurde zu einer Tradition.
Von nun an bringt Maelo jeden Sonntagabend den gesamten Familienstammbaum zusammen: seine vier Brüder, seine drei Schwestern, ein Dutzend Cousins, Jugendfreunde und hereingeschneite Flüchtlinge – verirrte Guatemalteken oder Kubaner auf der Durchreise. Die feierfreudige Menge verputzt Flügelschnecken, Garnelen, Seebarben, Riesenmuscheln, kiloweise Reis mit Habichuelas, Guandules und Yuca – das ganze abgerundet mit Concha y Toro, Brugal Añejo und Mamajuana. Danach tanzen sie Bachata bis in den frühen Morgen und planen die Weltrevolution – mit besonderem Augenmerk auf die Karibik.
Maelo kann es verstehen, wenn Einwanderer verirrt sind, verwirrt, verschlossen, abgekämpft, ausgebeutet, sich anzupassen weigern, depressiv werden, in Nostalgie versinken – aber niemals dürfen sie so tief sinken, die Familie aufzugeben.
Colmado Real
Noah betritt die Schalterhalle und lässt mit unbekümmerter Miene die wenigen zum Erwerb einer Briefmarke nötigen Münzen in der Hand tanzen. In der anderen Hand hält er den magischen Umschlag, verziert mit dem Namen seiner Mutter, der Anschrift der Poststelle in Fertile, Manitoba, und einer Absenderadresse – tröstlicher Fixpunkt im Universum.
Er hält plötzlich mitten im Raum inne, wie vom Blitz getroffen.
In der Luft liegt der gleiche Geruch wie in den tausend kleinen Poststellen, die zwischen Winnipeg und Calgary in der Prärie verstreut liegen. Papierstaub, Gummibänder, Stempelkissen.
Noah schwankt. Es schleudert ihn 3000 Kilometer von hier fort, zurück in die Zeit, als er 13 war. Er kneift die Augen zusammen, schaut sich um. Ist Montréal etwa auch nichts weiter als eine kleine Poststelle unter vielen? Er hatte geglaubt, Festland zu betreten, als er den Wohnwagen seiner Mutter verließ, und doch tut sich jetzt der Boden unter seinen Füßen auf. Alles ist nur noch Schlingern, Rollen und Taumel.
Er atmet tief durch, versucht wieder zur Besinnung zu kommen. Ein Geruch, was ist das schon? Ein Häuflein Moleküle, die durch die Atmosphäre treiben. Ungewisse Reize, die zwischen Riechschleimhaut und orbitofrontalem Cortex verkehren. Elektrisches Knistern, chemische Reaktionen, Enzyme, Neurotransmitter – unscheinbare Verkettung, die allerdings das subtile Gleichgewicht der Neuronen durchbricht, die Mamillarkörper durchschüttelt und alte Kindheitserinnerungen aus glückseliger Lethargie hervorreißt, in der sie verborgen lagen.
Noah kauft eine Briefmarke, klebt sie auf, steckt den Brief in den Schlitz und verlässt die Schalterhalle auf direktem Wege.
Macht unterm Strich: fünfundsiebzig Sekunden ohne Luftholen.
Er kehrt nach Hause zurück wie ein begossener Pudel, die Augen ins Leere gerichtet, die Hände hinter dem Rücken verschränkt wie mit unsichtbaren Handschellen gefesselt. Bei diesem Anblick spürt Maelo sein Herz schneller schlagen. Er kennt diesen Ausdruck, den er schon tausendfach auf den Gesichtern seiner Cousins gesehen hat: Es ist das Heimweh. Die Symptome unterscheiden sich nicht sehr zwischen einem Dominikaner und einem Saskatchewaner – die Menschen sind letzten Endes doch nicht so einzigartig wie man immer sagt – und er weiß genau, was zu tun ist. Mit der unbeirrbaren Autorität einer alten Geburtshelferin wendet er sich an seinen Mitbewohner.
„Noah, du musst den Stier bei den Hörnern packen.“
„Den Stier bei den Hörnern packen?“, wiederholt Noah, ohne wirklich aus seiner Träumerei aufzutauchen.
„Die ersten Tage sind die schlimmsten, aber du musst dich am Riemen reißen. Als erstes besorgen wir dir mal einen Job. Ich würde dich ja gerne mit ins Fischgeschäft nehmen, aber ich habe gerade ein Mädel eingestellt. Schau du am besten mal bei Cesar Sanchez vorbei.“
Cesar Sanchez, schweigsamer Dominikaner, stets mit einer billigen Zigarre im Mund, ist der oberste Steuermann des Colmado Real . Im Schaufenster seines Lebensmittelladens verkündet ein Schild unablässig eine freie Stelle für Fahrradboten, die Waren ausliefern.
Das Schild ist von der Hitze zahlreicher Sommer am Rand versengt, gewellt vom Januarfrost vieler Winter – und Noah folgert daraus, dass bei den Auslieferern des Colmado Real doch ein gewisser Verschleiß herrschen muss.
Eine erloschene Montecristo im Mundwinkel, mustert Cesar Sanchez Noah mit Röntgenblick.
„Kennst du das Viertel?“, begnügt er sich zu fragen.
„Ich bin in der Rue Dante geboren“,
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