Dickner, Nicolas
noch einiges lernen können. Sie hatte das Telefonbuch nach allen möglichen Varianten ihres Namens durchsucht und ein halbes Dutzend Telefonistinnen geplagt – vergeblich. Hatte sie ihre Identität gewechselt und irgendwo mit einem Vorstädter ein neues Leben angefangen? Ist sie ins Exil auf die Bahamas gegangen? War sie überhaupt noch am Leben? Große Frage.
Joyce hat den Eindruck, dass die letzten Verbindungen zu ihren freibeuterischen Ahnen langsam abrissen. Von nun an hält sie sich allein an den Zeitungsausschnitt über Leslie Lynn Doucette, der alleinige Beweis, dass die Berufung noch immer in der Familie liegt. Jedoch weiß sie rein gar nichts über diese entfernte Cousine. Sie hat keine Vorstellung davon, was sie genau treibt, was ihre Methoden sind, was die bevorzugten Ziele ihrer Piraterei, ihr Modus operandi – und noch weniger, worin der fatale Fehler bestand, der dem FBI erlaubt hatte, sie dingfest zu machen.
Joyce würde sich alles alleine beibringen müssen. Die Piraterei ist ein Fach für Autodidakten.
Maelo erscheint in der Tür und kündigt eine spannende Lehrstunde über die Anatomie des gemeinen Kraken (Octopus vulgaris) an. Joyce trinkt ihren Kaffee aus und erhebt sich.
„Sag mal Maelo . . . Täusche ich mich, oder kommst du aus der Dominikanischen Republik?“
„Du täuschst dich nicht.“
„Miguel und Enrique kommen aus Kuba, oder?“
„Richtig.“
„Und warum hat euer Fischgeschäft dann keinen spanischen Namen?“
„Wegen der irischen Einwanderer, die Anfang letzten Jahrhunderts im Steinbruch Miron gearbeitet haben. Jeden Sonntag nachmittag haben die genau hier Hockey gespielt. Sie nannten das den Shanahan Athletic Club . Im Laufe der Jahre wurde aus dem Hockeyfeld ein Busbahnhof und später dann der Marché Jean-Talon. Alles, was jetzt noch davon übrig ist, ist die Rue Shanahan. Siehst du, da hinten, am Ende des Marktes? Und da stand auch der Fischladen am Anfang.
„Und wo sind die Iren jetzt?“
„Keine Ahnung. Der Steinbruch Miron ist auf jeden Fall eine Müllhalde geworden.“
San Pedro de Macorís
Es gibt zwei San Pedro de Macorís.
Das erste befindet sich an der Südostküste der Dominikanischen Republik, auf 18 Grad nördlicher Breite und 69 Grad östlicher Länge. Das zweite liegt auf der östlichen Seite des Boulevard Saint-Laurent, in Montréal, in einem Gebiet, das im Westen durch die Rue Christophe-Colomb, im Norden durch eine imaginäre Linie durch die Metrostation de Castelnau und im Süden durch das Lebensmittelgeschäft Colmado Real in der Rue Saint-Zotique begrenzt wird.
Maelo war Gründungsbürger dieses zweiten San Pedro. Als er damals alleine, mitten im Winter 1976, ankam, war es zuweilen ganz schön hart, sich mit der neuen Umgebung vertraut zu machen: den Montréaler Temperaturen, der Geografie, der Bürokratie, der französischen Sprache, Radio-Canada, dem Pâté Chinois, der Arbeitslosigkeit und Guy Lafleur. Diese Mischung schien ihm nur schwer bekömmlich. Und bald schon dachte er daran, alles aufzugeben und wieder zurück in sein heimatliches Dorf zu gehen, aber als er gerade sein letztes Geld zusammenkratzte, um ein Rückflugticket zu kaufen, kündigte ein erster Cousin seine Ankunft am Flughafen Mirabel an.
Maelo schöpfte wieder Hoffnung: Er bekam Verstärkung geschickt!
Aus dem zögerlichen Einwanderer wurde ein Kolonisator. Die Verbindungen zwischen San Pedro de Macorís und Montréal wurden zunehmend enger, geknüpft durch euphorische Briefe, chaotische Telefonate und Transfers über Western Union . Mehr und mehr Familienmitglieder strömten herbei. Die Cousins trafen scharenweise am Flughafen ein, waren begeistert und bibberten. Maelo spielte den Ortsveteranen vom Dienst: Er brachte die Neuankömmlinge unter, fand Jobs für sie, nährte und tränkte sie und setzte sie wieder in die freie Wildbahn. Ohne es zu wollen, wurde er zum Gravitationspunkt dieser neuen Gemeinschaft. Er organisierte Fiestas und Cenas , Treffen, Essen, Kaffeetrinken – und wenn mal nichts auf dem Programm stand, ging man zu ihm, um sich die Zeit zu vertreiben, wie auf den Marktplatz einer unsichtbaren Stadt.
Diese Treffen fanden ihren Höhepunkt am Abend der dominikanischen Präsidentschaftswahlen von 1986, als Maelo ein großes Jututo einberief – eine Versammlung, um gemeinsam mit der Familie gegen die Kandidatur von Joaquín Balaguer zu protestieren, Rum zu trinken und sich über die Zukunft der Republik zu zanken.
Balaguer wurde wiedergewählt, die
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