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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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Rand des Korbes fest in den Händen, den Kopf vornüber gebeugt, hat er das Gefühl, über das Viertel hinwegzufliegen. Die Widrigkeiten der Straße verschwinden. Kein Verkehr mehr, keine Einbahnstraßen, keine Straßenverkehrsordnung – nur noch ein paar durch die hohe Geschwindigkeit lang gezogene Fixpunkte: der Marché Jean-Talon, die Kirche Saint-Zotique, ein Greis auf einer Bank, die Statue des alten Dante Alighieri, die Abfolge von Metzgereien und Schustern, ein von Bäumen gesäumter Gehsteig.
    Die auf den ersten Blick banale Arbeit als Auslieferer erweist sich für ihn plötzlich als die beste Art und Weise, das Viertel zu kartografieren.
    Vom Lenker seines Fahrrads aus erstellt er ein Luftbild der Gegend – Plätze, Gassen, Wände, Graffitis, Schulhöfe, Treppen, Kaufhallen und Imbiss-Restaurants –, im Gespräch mit seinen Kunden erforscht er die Akzente, die Kleider, die morphologischen Merkmale, die Küchendüfte und jeden Fetzen Musik. Fügt man das eine mit dem anderen zusammen, so ergibt sich aus diesen zweierlei Bestandsaufnahmen eine komplexe Karte des Viertels – zum einen physisch, zum anderen soziokulturell.
    Er versucht, seine Beobachtungen auf eine Montréaler Straßenkarte zu übertragen, jedoch reichen zwei Dimensionen nicht aus, um darin diese Fülle von Informationen unterzubringen. Es bräuchte eher ein Mobile, ein Mikadospiel, einen Satz Matroschkas, oder am besten ineinander verschachtelbare Modellbauten: ein Petite Italie, in dem sich ein Petit Lateinamerika befindet, mit darin einem Petit Asien und einem Petit Port-au-Prince, nicht zu vergessen einem Petit San Pedro de Macorís.
    Zum ersten Mal in seinem Leben beginnt Noah, sich zu Hause zu fühlen.

Großfang
    Draußen auf der Feuertreppe hat Joyce es sich mit einem Bier bequem gemacht. Auf den Knien hält sie ein zerfleddertes Spanischbuch (aus dem Müll einer Sprachschule gefischt) und lernt die unregelmäßigen Verben des Pretérito auswendig. Zu ihren Füßen bringt ein zusammengeflickter Radioempfänger die 22-Uhr-Nachrichten.
    In Baie-Comeau ist der Teufel los: Eine Handvoll Demonstranten versuchen, einen sowjetischen Frachter am Anlegen zu hindern, der polychlorierte Biphenyle (PCB) aus Saint-Basile-le-Grand an Bord hat. Das verunreinigte Öl war von der Liverpooler Hafenbehörde zurückgewiesen worden und man versuchte nun, es heimlich an der Côte-Nord loszuwerden. Das Sondereinsatzkommando der Provinzpolizei und die aufgebrachten Bürger machen einander den Kai streitig, während die Sowjets die Auseinandersetzung unter Flüchen verfolgen.
    Die Reportage kommt und geht, knistert und verschwindet ganz. Zwischen zwei elektromagnetischen Gewittern spricht Robert Bourassa von verantwortungsvoller Ressourcennutzung und von den nächsten Wahlen.
    Joyce gähnt und bringt das Radio mit einem Tritt zum Schweigen. Sie trinkt ihr Bier aus und lässt den Blick durch die Nachbarschaft schweifen. Alles ist ruhig. Auf der anderen Straßenseite schwirrt eine Wolke phosphorizierendes Plankton um eine Laterne.
    Die Nacht ist jung, der Alkohol verwischt die Konturen des Kosmos. Sie beschließt, ihre Netze auszuwerfen.

    Wohin gehen die alten IBMs zur letzten Ruhe?
    Wo befindet sich die geheime Begräbnisstätte der TRS-80? Das Massengrab der Commodore 64? Das Ossarium der Texas Instruments? Das sind die Fragen, die Joyce beschäftigen, als sie die Abfälle der Petite Italie durchforstet. Bisher hat sie einen Haufen nützlicher Dinge gefunden – Radio, Ventilator, Arbeitsstuhl, CDs –, aber in Computerdingen hat sie nur einen alten, verkohlten Atari an Land gezogen. Aber irgendwo müssen sich die Leute ihrer veralteten Hardware doch entledigen!
    Hinter der Plaza Saint-Hubert überrascht sie einen Kollegen, der gerade dabei ist, sich in den Tiefen eines Containers am Müll zu vergreifen. Sein Kopf verschwindet, taucht auf und verschwindet wieder, während die Taschenlampe sporadisch die angrenzenden Hauswände beleuchtet.
    Joyce nähert sich und hustet ein wenig, um auf sich aufmerksam zu machen. Der Mann streckt den Kopf aus dem Container. Er sieht aus wie ein verrückter Wissenschaftler: um die fünfzig, runde Brille, weißes Bärtchen und eine Narbe in Form eines Möbiusbands unter dem linken Auge.
    „Na, beißen sie?“, fragt Joyce mit Unschuldsmiene.
    „Kann nicht klagen. Ich bin auf einen Schwarm italienischer Schuhe gestoßen.“
    „Sonst nichts?“
    „Was suchst du denn?“
    „Computer.“
    „Die ganz großen Fische“,

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