Dickner, Nicolas
bemerkt er und pfeift anerkennend. „Die kriegst du hier aber nicht an den Haken. Für Informatikteile schaust du besser im Geschäftsviertel nach. Börse, IBM, Place Bonaventure . . . Weißt du wo?“
„Nicht wirklich. Ich bin neu in Montréal.“
„Warte mal eben.“
Der Mann kritzelt einige Hinweise auf seine Visitenkarte.
„Hier. Aber pass auf mit den Sicherheitsleuten.“
Sie begutachtet das Stückchen Papier. Auf der Vorderseite: Dr. Thomas Saint-Laurent, Lehrstuhl für Anthropologie . Auf der Rückseite: eine winzige Schatzkarte aus Straßen, Gassen, Tiefgaragen und Metrostationen.
Joyce lächelt. Es ist kurz vor Mitternacht, und an Schlafen ist nicht zu denken.
Texas Instruments
Ecke Rue Maisonneuve ist alles ruhig.
Die spärlichen Passanten eilen mit tief in den Schal gedrücktem Kinn zur Metrostation Guy-Concordia. Leicht versetzt von der Straße befindet sich der Diensteingang zu einem Gebäude, getarnt hinter einem Gitter und einer Wand aus Sumachpflanzen. Die Unscheinbarkeit des Ortes ist wohl berechnet. Nichts weist auf etwas Besonderes hin, mit Ausnahme zweier Schilder: „BETRETEN VERBOTEN / ENTRANCE FORBIDDEN“ und „ACHTUNG – dieser Bereich wird elektronisch überwacht“.
Joyce schlüpft in den Innenbereich, atmet tief durch und prüft die Lage. Ganz am Ende des Parkplatzes, nahe der Laderampen, befinden sich drei Müllcontainer. Sie zieht ihre Arbeitshandschuhe an und dringt weiter auf das Gelände vor, wobei sie sich vorsichtig umschaut. Keine Überwachungskameras zu sehen. Sie öffnet den ersten Container und und fegt mit der Taschenlampe über dessen Inhalt.
Zwischen den Abfällen lugt eine Computertastatur hervor.
Joyce unterdrückt einen Jubelschrei. Sie versucht, die Tastatur herauszuziehen, doch das Kabel hängt irgendwo zwischen den Müllsäcken fest. Sie nimmt die Taschenlampe zwischen die Zähne, springt in den Container und sinkt bis zur Taille in die Reste eines Arbeitstreffens ein – angegorene Croissants, klebrige Pappbecher. Mit einem Pfeifen kommt der Geruch von saurer Milch aus den Säcken. Joyce muss schlucken und bohrt mit einer Hand in den Müll hinein. Sie hält den Atem an und versucht, sich zwischen den Säcken hindurchzugraben. Nach einer ganzen Weile kommt der Kasten zwischen den Plastiksäcken hervor wie ein verschmierter Fötus.
Joyce packt ihn mit festem Griff und zieht ihn an die Oberfläche. Erschöpft lässt sie sich daraufhin in den Müll fallen und holt wieder Luft. Ihr ist schlecht von der Aufregung und dem ausströmenden Methan – aber was sein muss, muss sein: endlich hat sie etwas an Land gezogen. Sie hebt den Computer aus dem Container und schaut ihn sich auf dem Asphalt kniend genauer an. Es ist ein alter, klappriger Texas Instruments 8086 ohne Gehäuse und Festplatte. Optisch gibt er zwar nicht viel her, aber ein guter Anfang ist gemacht.
„Bleiben Sie, wo Sie sind!“
Sie fährt herum. Ein dickbäuchiger Sicherheitsmann kommt auf sie zu, wobei eine Hand den Griff seines Gummiknüppels umspielt. Ohne nachzudenken springt Joyce auf die Füße. Der Wachmann versucht, ihr den Weg zu versperren, sie weicht ihm aber ohne Schwierigkeiten aus und spurtet zum Ausgang. Keine gute Idee – ein zweiter Scherge steht dort bereit: hochgewachsen, schlank, Mitte zwanzig und schwingt aggressiv den Knüppel.
Joyce bleibt abrupt stehen. Hinter ihr nähern sich rasch die Schritte des Wampenmanns.
Dick und Doof, bewaffnet und gefährlich.
Joyce’ Gehirn läuft auf Hochtouren, jede Windung steht unter Strom. In wenigen Sekunden wird sie mit der Wange auf dem Asphalt liegen, hat ein Knie im Rücken und bekommt fachgerecht Handschellen angelegt.
Sie dreht sich um neunzig Grad und rast zum Zaun. Maschendraht: Zum Glück, damit kennt sie sich aus. Sie greift in die Maschen und klettert so schnell sie kann. Zu spät: Ein Paar Hände packt sie am Saum ihrer Jeans und zieht. Sie klammert sich fest und tritt mit ihren Stiefeln blindlings um sich. Der junge Draufgänger heult vor Schmerz auf und lässt los.
So unvermittelt aus dem Haltegriff befreit, kippt Joyce in einem eleganten Bogen über den Zaun.
Kopfüber im Nichts baumelnd fragt sie sich, wie das alles enden soll.
Sie landet auf einem Lüftungsgitter des Wolkenkratzers, mitten in der lauwarmen Ausatemluft von fünfzig Büroetagen: staubige Teppiche, überhitztes Plastik, Ozon, Kohlenmonoxid, kleinste Papierablagerungen, Keratin. Sie steht zitternd auf und zieht sich die Handschuhe von den
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