Dickner, Nicolas
möchtest du schreiben?“
„Ich hatte an eine Vergleichsstudie zwischen der Entwicklung des Straßensystems und der Zunahme von Müllhalden in den 70er Jahren gedacht.“
Kurzes Schweigen. Thomas Saint-Laurent nickt nachdenklich.
„Sehr interessantes Projekt, aber eine ganz schlechte Idee. Auch mit einem brillianten Ansatz und einer tadellosen Methodik wirst du damit bei der Verteidigung nicht durchkommen. Alle Projekte über Müllhalden werden abgelehnt. Verbotenes Thema.“
„Und Ihre Seminare?“
„Sie lassen mich gewähren, weil sie mich nicht einfach rausschmeißen können. Aber ich kann dir etwas anderes vorschlagen. Interessiert dich indianische Vorgeschichte?
Erneutes Schweigen.
„Wie bitte?“, stottert Noah.
„Die Universität ist ein konservatives Milieu. Um zu überleben braucht man eine angesehene Spezialisierung. Du willst über Müllhalden schreiben? Beweise dein Können erst in einem weniger strittigen Bereich. Die indianische Vorgeschichte ist eine ausgezeichnete Schule – und außerdem brauche ich auch gerade einen Assistenten.“
Noah merkt, wie ihm schwindelig wird. Er kann die Ironie der Situation kaum fassen.
„Ich liebe indianische Vorgeschichte“, hört er sich sagen.
1994
Bei den Seeschlangen im fünften Stock
Noah steht reglos vor einem Briefkasten. Fasziniert betrachtet er die Schichten von Graffiti und Aufklebern, die seitlich an dem Kasten kleben. Punk’s not dead!, ¡Viva Zapata! und Fünfzehn Kilo weniger in dreißig Tagen – wesentliche Botschaften der nordamerikanischen Kultur. Er fragt sich, was wohl die Archäologen denken werden, wenn sie in dreitausend Jahren diesen Briefkasten ausgraben. Werden sie die Funktionsweise dieses Gegenstandes verstehen, oder werden sie vielleicht denken, den Hostienschrein einer obskuren kleinen Sekte gefunden zu haben?
Um ihn herum drängen sich die Passanten, rempeln mit der Schulter. Schlechter Ort für Tagträume. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn und zieht drei Umschläge aus der Hemdtasche.
Er hat in den letzten vier Jahren mehr als 500 Briefe an seine Mutter geschrieben und kennt die Postcodes jeder noch so kleinen Poststelle zwischen Lac des Bois und Whitehorse auswendig. Nach seinen Berechnungen müsste Sarah momentan in der Gegend um den Petit Lac de l’Esclave ihre Kreise ziehen und die drei Briefe sind folglich an die Poststellen von Little Smoky (T0H 3Z0), Triangle (T0G 1E0) und Jean Côté (T0H 2E0) adressiert.
Er wirft die Briefe ein und überquert die Straße, wobei er sich fragt, wie warm es gerade im südlichen Yukon sein mag.
Hinter den schweren Glastüren der Bibliothek herrschen wahrhaft grönländische Temperaturen. Die Tür schließt sich langsam, und die unerträgliche Hitze ist bald nur noch ein schwaches Knistern auf der anderen Seite des Glases. Noah durchquert die menschenleere Eingangshalle und geht zum Ausleihtresen, wo die Angestellte in Die Straße von Altamont vertieft ist. Als er bei den Kopiergeräten vorbeikommt, überrascht er dort einen hochgewachsenen Bartträger, der einer seltsamen Tätigkeit nachgeht: Er hat einen Altpapierbehälter auf dem Boden ausgeleert und sortiert Hunderte von Fehlkopien auf verschiedene Stapel.
„Tom Saint-Laurent!“, ruft Noah voller Freude. „Was machst du denn hier?“
„Du siehst schon ganz richtig: Ich untersuche die Altpapierbehälter.“
„Ich dachte, du wärst zum Angeln in die Laurentides gefahren.“
„War ich auch“, bestätigt er mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. „Aber stell dir vor, als ich gestern Nachmittag auf die Forellen wartete, habe ich plötzlich über Papier nachgedacht. Hast du dich schon einmal gefragt, wie viel Prozent Information in den Altpapierbehältern drin ist? Was kopieren die Leute? Was werfen sie weg und warum werfen sie es weg? Wie hoch ist der Anteil an weißem Papier, das direkt in die Wiederverwertung geht?“
Er schwenkt einen dicken Stapel Blätter, die aus den Eingeweiden des Kopierers gekrochen kamen, ohne einen einzigen Tonerpartikel abbekommen zu haben.
„Weißes Papier, ein faszinierender Abfall! Obwohl man eher Anti-Abfall sagen sollte, da er im Müll landet, ohne jemals benutzt worden zu sein. Und außerdem ist dieser Anti-Abfall auch noch Anti-Artefakt, ein Objekt, das für sich genommen keine Information transportiert.“
„Du hast dich also kurzum in deinen Geländewagen geschwungen und bist nach Montréal zurückgekommen, um Anti-Archäologie in den Altpapiercontainern zu
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