Dickner, Nicolas
Vorlesung in Archäologie hinter sich und empfand einige Schwierigkeiten, seine anfängliche Begeisterung am Leben zu erhalten. Wenn er ehrlich war, so hatte er den Eindruck, Saskatchewan verlassen und Tausende Kilometer zurückgelegt zu haben, um sich einem der langweiligsten Studienfächer der Welt zu widmen. Er tat so, als interessiere er sich für die Seminare, in Wirklichkeit aber ließen die Ausgrabungstechniken ihn kalt, die analytische Archäologie schläferte ihn ein, die Probleme der Nomenklatur schienen ihm ohne jeden Belang – und als ob das noch nicht ausreichte, traumatisierte ihn Professor Scott mit seinem Seminar über die Vorgeschichte der Ureinwohner.
Edmond Scott kam direkt aus dem 19. Jahrhundert – böse Zungen behaupteten sogar, er habe den großen Häuptling Sitting Bull noch persönlich gekannt. Vor dem fast leeren Auditorium gab er die seit 1969 unveränderte Vorlesung, in der er ein Panorama der Algonquin, der Sioux und Nootkas präsentierte wie eine Sammlung toter Fische, die in Tonkrügen mit Weingeist schwimmen.
Diese wissenschaftliche Kühle hatte Noah erschüttert.
Zum ersten Mal seit Ewigkeiten hatte er an die alten, faltigen Chipewyan-Indianer gedacht, die im Wohnwagen seiner Mutter ihren Spuk trieben. Mit verstörender Genauigkeit erinnerte er sich wieder an die Namen all der Reservate, an die Mäander seiner Ahnenfolge und die Spitzfindigkeiten des Indian Act . Dieses approximative und lose zusammengetragene Wissen, das nach Heu und Motoröl roch, passte einfach nicht in einen Seminarraum. Noah fürchtete, dass er durch den Besuch von Edmond Scotts Vorlesung einen unsagbaren Verrat an seinen indianischen Wurzeln verübte. Er zog mehrere Werke über die Ethik in der Archäologie zu Rate, jedoch fand diese Art von Interessenkonflikt nirgends Erwähnung. Er musste mit seinen Skrupeln selbst zurande kommen.
Er spielte mit dem Gedanken, das Studium abzubrechen, als ein Freund ihm riet, das Seminar von Thomas Saint-Laurent zu belegen, das nach seinen Angaben das Seminar war, „zu dem man hinmuss, wenn man nur noch ein Seminar besuchen kann, bevor die Welt untergeht“.
Natürlich hatte Noah bereits von Thomas Saint-Laurent gehört, dieser rätselhaften Person, die sich mit Abfallarchäologie beschäftigte. Sein Lebenslauf war beeindruckend: Ordinarius für Archäologie, Direktor eines der bestangesehenen Forschungszentren des Landes, Ausgrabungsleiter auf mehreren vorgeschichtlichen Ausgrabungsstellen im Nunavik sowie der Autor eines Dutzend Bücher. Außerdem waren seine Arbeiten über die Müllhalden der Gegenstand von zahlreichen Artikeln, drei Dokumentarfilmen und einigen Fernsehbeiträgen.
Thomas Saint-Laurent war durch seine Müllgeschichten der Archäologe mit der größten Medienpräsenz Kanadas.
Nicht alle seine Kollegen teilten die Begeisterung für dieses sonderbare Spezialgebiet. Mehrere von ihnen warfen ihm vor, in einer ohnedies entzweiten Fakultät Streit zu schüren, bei Kolloquien mit seinen sensationalistischen Beiträgen alle Aufmerksamkeit an sich zu reißen und den Studenten ein falsches Bild von der Archäologie zu vermitteln.
Den Hauptbetroffenen ließ das vollkommen kalt: Er stöberte nach wie vor auf Müllhalden und auf der Straße herum, schrieb Artikel über die postindustrielle Archäologie und bildete den Nachwuchs aus.
Das Seminar, für das sich Noah eingeschrieben hatte (Ordnung und Unordnung: eine neue Lesart der Sesshaftigkeit), beschäftigte sich mit zwei wichtigen Grundsätzen:
1. Alles ist Abfall.
2. Der Untersuchungsbereich der Archäologie beginnt gestern Abend zur Abendbrotzeit.
In den folgenden Monaten lernte Noah so einiges über die Stratigrafie von Müllhalden, die Geschichte der Müllabfuhr, die Ausdehnung der nordamerikanischen Vorstädte und die mineralölverarbeitende Industrie. Er untersuchte den Einfluss der Hudson Bay Company auf die Lebensweise der Inuit. Er sezierte Müllsäcke. Er verglich die Bewegungen an der Torontoer Börse mit dem zunehmenden Aufkommen von Haushaltsabfällen in den Torontoer Vorstädten.
Sein Weltbild war erschüttert.
Deshalb nahm er all seinen Mut zusammen und ging – mit dem Herzklopfen eines unwürdigen Sohnes, der sich anschickt, den väterlichen Segen zu erbitten – in das Büro von Thomas Saint-Laurent, um ihm die Absicht zu offenbaren, sich bei seiner Magisterarbeit in Archäologie von ihm betreuen zu lassen.
„Sehr gut!“, freute sich Thomas Saint-Laurent. „Und über welches Thema
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