Dickner, Nicolas
Guatemala.
Joyce hört der Reportage nur mit halbem Ohr zu. Sie ist über die Leiterplatten eines Computers gebeugt und lötet, mit der manischen Genauigkeit eines Neurochirurgen, einige Verbindungsstecker an.
Auf das verbeulte Gehäuse des Geräts hat sie mit Marker einen Namen geschrieben: William Kidd (Nr. 43) .
Es war nicht einfach gewesen, diesen Computer zu bekommen. Joyce hat mehrere schlaflose Nächte damit verbracht, das Geschäftsviertel zu durchforsten. Sie hat Hunderte von Containern geöffnet, Tausende von Säcken aufgerissen, unbeschreiblichen Gestank ertragen. Sie hat sich den Knöchel verstaucht, den Kopf gestoßen, die Ellenbogen aufgeschürft. Mehrmals wäre sie um ein Haar von den Sicherheitsleuten geschnappt worden. Sie ist gerannt, geklettert, gerobbt. Abgekämpft und hinkend schleppte sie dann im Morgengrauen die wertvollen Computerleichen von einem ans andere Ende der Stadt.
Seitdem gleicht ihr winziges Zimmer einem Trödelmarkt. Überall stapeln sich ausrangierte Computer, mit Fingerabdrücken übersäte Bildschirme, zahnlose Tastaturen, Modems, Drucker, Festplatten und Disketten, Teile von Platinen – das Ganze umwoben von Kabelsalat und regelrechten Trauben von Mäusen. Alles war so veraltet, so verdreckt, dass Joyce sich wie eine Archäologin vorkam.
Mit Handbüchern und einem Torx-Schraubenzieher bewaffnet seziert sie die Kadaver, entnimmt die besten Organe und transplantiert sie in ein einziges Gerät. Aus Mangel an Apparaten, mit denen sie den Gesundheitszustand der einzelnen Bauteile überprüfen hätte können, bleibt ihr nur Versuch und Irrtum – viele Versuche und viele Irrtümer. Bei jedem neuen Ausprobieren erwartet sie eine neue Überraschung. Der Computer scheint zu laufen, läuft, und auf einmal läuft er nicht mehr. Das Netzteil spuckt Funken und Rauch. Das Motherboard brutzelt wie eine Forelle in der Bratpfanne. Leiterplatten explodieren und die Splitter geborstener Transistoren fliegen in alle Ecken. Die meisten Geräte wandern bei diesem schonungslosen Umgang recht bald wieder zurück auf den Müll, mit noch ein wenig verkohlteren Platinen als zuvor.
Jeder andere hätte schon längst aufgegeben. Joyce nicht. Wenn sie merkt, dass ihr Eifer nachlässt, schaut sie zum Zeitungsausschnitt über Leslie Lynn Doucette an der Wand – kleiner Katechismus in 43 Zeilen. Wieder und wieder sagt sie sich, dass sie nicht zweifeln darf, dass sie kein Recht hat zu zweifeln. Der Glaube ist eine unstete Angelegenheit: Es fängt mit ein paar harmlosen Bedenken an, gerät außer Kontrolle und schon beginnt man, alles in Frage zu stellen – die Entbehrungen, die schlaflosen Nächte, die legendären Ahnen, seine Erinnerungen, seine Hoffnungen, die eigene Existenzberechtigung.
Da ist es besser kopfüber durchzustarten, als sich Nacht für Nacht, Bauteil für Bauteil zu viele Fragen zu stellen.
Die Nachrichtensendung im Radio geht zu Ende. „Es ist 23:07 Uhr“, verkündet der Sprecher, „Sie hören das Hörfunkprogramm von Radio-Canada.“
Joyce schaltet das Radio aus und schließt nervös William Kidd an das Stromnetz an, den 43. Avatar, der einem Wiederbelebungsversuch unterzogen wird. Sie weiß nie, auf was sie sich gefasst machen muss. Erst gestern war ihr Barbarossa (Nr. 42) mit einem spontanen Kurzschluss um die Ohren geflogen, wodurch um ein Haar die gesamte Wohnung in Flammen gestanden hätte. Vor einigen Wochen war Edward Teach (Nr. 37) zu einem kompakten Plastikblock zusammengeschmolzen. Bei Samuel Bellamy, Francis Drake, François L’Ollonois und Benjamin Hornigold – mit den jeweiligen Nummern 03, 09, 13 und 24 – ist weniger prosaisch die Sicherung durchgebrannt.
Joyce drückt die Daumen, schickt ein Stoßgebet im Gedenken an Mary Shelley und drückt auf den Anschaltknopf.
Nach einigen Sekunden kommt Leben in die Schaltkreise.
Sie beugt sich über die Eingeweide des Computers und lauscht aufmerksam. Der Ventilator der Stromversorgung schnurrt wie ein Kätzchen. Das BIOS fährt hoch wie vorgesehen. Die Speichermodule scheinen intakt. Die Festplatte setzt sich problemlos in Bewegung.
Alles funktioniert zu gut. Joyce tritt einen Schritt zurück, rechnet mit dem Schlimmsten.
Plötzlich, nichts mehr.
Keine Explosion, kein Knistern, kein Funkenflug – nur das gleichmäßige Schnurren des Ventilators. Ungläubig sieht Joyce den Cursor auf dem Bildschirm blinken.
William Kidd wartet geduldig auf ihre Anweisungen.
Thomas Saint-Laurent
Noah hatte gerade seine dritte
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