Dickner, Nicolas
blättere darin. Rücken und der vordere Einband sind brutal abgerissen worden und haben eine Handvoll Seiten mit sich genommen. Es ist unmöglich, den Titel oder den Namen des Autors zu finden, entscheidende Informationen, die zusammen mit dem Vorsatzblatt verloren gingen. Ich lege das Buch auf den Tresen.
„Wovon handelt das?“
„Von Schätzen. Von Piraten.“
„Dann schauen Sie in der Abteilung Reiseberichte und Abenteuer nach. Das ist hinten rechts, in der Nähe der Toiletten. Folgen Sie dem tropfenden Wasserhahn.“
Sie geht in den hinteren Teil der Buchhandlung. Ich blicke zerstreut auf die Migrationskarte der Garifuna, obwohl mich die ganze Zeit das Gesicht dieser Frau beschäftigt. Kassiererin im Laden an der Ecke? Oberflächliche Bekannte von einem Abendessen bei Freunden? Flüchtige Passagierin im Bus Nr. 55? Ein Buchhändler muss so viele Dinge im Kopf haben, und wie der alte Borges schon sagte, kann man irgendwann nicht mehr auseinanderhalten, was man gelesen, gesehen und erlebt hat.
Die Suche der Frau dauerte nicht lange: Nach zehn Minuten kommt sie zurück an die Kasse.
„Haben Sie gefunden, was Sie wollten?“
„Viel besser.“
Sie legt ein halbes Dutzend Bücher auf den Tresen – seltene Werke, die man in einer normalen Buchhandlung nicht findet. Ich taste nach einem Bleistiftstummel und rechne die Preise zusammen. Die Frau sieht mich verstohlen an, mit zögerndem Gesichtsausdruck.
„Was haben Sie da um den Hals?“, fragt sie schließlich.
„Einen Nikolski-Kompass.“
Sie fragt nicht weiter nach und schaut hinüber zur Abteilung mit den Bob Morane. Ich kritzle die Gesamtsumme für den Einkauf auf eine Rechnung und reiche ihr den Durchschlag.
Das macht zusammen 119 Dollar. Gerundet, sagen wir 110.“
Ich greife mit der Hand unter den Tresen und ziehe eine große gelbe Tüte von einem Schuhgeschäft hervor. Einige Kunden wundern sich darüber, dass wir gebrauchte Tüten verwenden, aber Madame Dubeau hält daran fest, dass gebrauchte Bücher nicht in neues Plastik gehören.
Die Frau holt ihr Portemonnaie hervor und zahlt ohne mit der Wimper zu zucken. Sie greift sich daraufhin Tüte und Schirm, grüßt und kehrt zurück ins Unwetter. Für einige Sekunden versuche ich noch, mich daran zu erinnern, wo ich sie gesehen haben könnte. In der Kaffeebrennerei? Auf dem Marché Jean-Talon? Unter dem Portalvorbau einer Evangelistenkirche? Ich zucke mit den Schultern und bin im Begriff, wieder in die Giftkammer zurückzukehren, da entdecke ich ihr altes Buch, wie es ohne Einband vergessen auf dem Tresen liegt.
Ich packe mir das Buch und renne hinaus auf den Bürgersteig. Ich suche die Umgebung ab, mit zusammengekniffenen Augen im strömenden Regen. Die Frau ist verschwunden. Ich wische das Wasser weg, das mir den Hals entlangrinnt und trete den Rückzug an. Da ich mit dem Buch nun alleine bin, nehme ich eine eingehende Untersuchung vor. Es scheint älter zu sein, als auf den ersten Blick anzunehmen ist. Ich öffne es irgendwo in der Mitte und lese den ersten Satz, der mir ins Auge springt:
Wenn ein Pirat im Traume die Stunde seines Todes nahen sah, so hoffte er nicht darauf, ins Paradies zu kommen, sondern endlich wieder nach Providence zurückzukehren.
Piratengeschichten. Was für eine sonderbare Sache, wenn man mal darüber nachdenkt . . . Aus welchem Grund sollte ein Autor beschließen, sich einem so verqueren Thema zu widmen? Zweifellos handelt es sich um jemanden wie mich: einen Bücherwurm, der Zeit seines Lebens noch keinen Pantoffel auf die Weltkarte gesetzt hat und seine Irrfahrten und Abenteuer mittels Stellvertreter-Seeräubern erlebte. Ich begutachte das Buch von allen Seiten, aber vom Autor ist wirklich absolut keine Spur mehr geblieben. So ist es denn nur noch ein alter, enthaupteter Schinken, aus der Feder eines Mannes ohne Namen.
Plötzlich bemerke ich ein sonderbares Detail: Die Lettern auf der ersten und der letzten Seite sind nicht die gleichen. Wenn man genau hinschaut, weichen auch die Typographie und die Breite des Satzspiegels voneinander ab. An der Bindung sind schadhafte Stellen zu sehen, Unterschiede in den Farben und in der Beschaffenheit des Papiers – und mit einem Mal fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Dieses Buch besteht in Wirklichkeit aus einer Aufeinanderfolge von Papierbögen, die aus verschiedenen Büchern stammen müssen, die grob aneinandergenäht und dann gebunden wurden.
Mit Blick auf die wundersame Paginierung, gelingt es mir problemlos,
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