Dickner, Nicolas
„Heute war einiges los“, diagnostiziert er und wischt sich die Stirn. Zunächst die Rückkehr in die Zivilisation, dann die Verhaftung von Thomas Saint-Laurent und jetzt das Wiederauftauchen von Arizna. Er muss an den texanischen Ranger denken, der drei Mal hintereinander vom Blitz getroffen wurde. Blitzableiter-Jim wurde dieses Naturphänomen genannt. Noah hat sich immer gefragt, wie dieser rundliche, unscheinbare Mann drei solche Elektroschocks hatte überleben können.
„Sollen wir was trinken gehen?“, bohrt Arizna weiter.
Die Luft knistert Noah in den Ohren. Er blickt auf seine eben erst geköpfte Flasche Bier, aus der ein feiner Kohlensäuredunst aufsteigt.
„Gerade wollte ich . . .“
„Super!“, ruft sie. „Ich warte auf dich.“
Noah hat keine Zeit mehr, noch irgendetwas hinzuzufügen: Arizna gibt ihm eine Zimmernummer für ein großes Hotel im Geschäftsviertel durch, und schon ist er wieder allein, mit sich und dem Freizeichen.
Um ihn herum weht der Geruch nach Verbranntem.
Piraten sind pragmatische Leute
Zu Hause angekommen hebt Joyce den Deckel eines Topfes, der verlassen auf dem Herd stand, inspiziert dessen Inhalt mit skeptischer Nase und schaltet die mittlere Flamme ein.
Meeresgeruch liegt in dem einen Zimmer mit Bad. Auf dem Küchentresen türmen sich die Reste der zuletzt bereiteten Speisen: gegrillter Fisch, pochierter Fisch, Fischsuppe und Krabbenchips. Die Gegend um das Spülbecken quillt über vor schmutzigem Geschirr, verschmierten Gläsern, verkrusteten Töpfen. Der Rest des Raumes steht diesem Durcheinander in nichts nach, und Joyce bahnt sich ihren Weg mit kleinen Tritten gegen die Dinge, die den Boden bedecken.
Im hinteren Teil des Raums steht ein improvisierter Arbeitstisch aus Holz, das sie von einer Baustelle hat mitgehen lassen. Zwei Computer teilen sich das Möbelstück: Jean Lafitte (Nr. 54), rundum in gutem Zustand trotz einiger blauer Flecken, und Henry Morgan (Nr. 52), mit heraushängenden Eingeweiden. In der näheren Umgebung häufen sich elektrische Wracks, Schraubenzieher, stapelweise Disketten, ein Berg alter Modems. Unter dem Tisch liegen dicht gedrängt ein elektrischer Numeroteur, ein antiker Photokopierer und drei Kisten voller Platinen.
Der einzige analoge Gegenstand in diesen Gefilden ist eine Flasche Saint James Rum. Joyce zieht den Pfropfen mit den Zähnen heraus und schenkt sich ein Glas davon ein.
An der Wand hängen zwei Pressenotizen.
Die erste informiert über die Verhaftung von Leslie Lynn Doucette durch das FBI. Vierzig Zeilen, kein Foto – eine Piratin ohne Gesicht. Die zweite, noch knapper, berichtet über den Ausgang des Prozesses: Doucette wird zu 24 Monaten Haft verurteilt und verliert das Sorgerecht für ihre Kinder. Mit diesem drakonischen Verdikt wollte der Richter offensichtlich ein Exempel statuieren. Diese zwei vergilbten Papierchen verkörpern die Gesamtheit der Medienberichterstattung über das, was im Sommer 1989 zur Affäre Doucette hätte werden können, jedoch nie über das Stadium „unter ferner liefen“ hinauskam. Während die Informationspiraten im kollektiven Bewusstsein – und im amerikanischen Rechtssystem – auftauchten, wurde Leslie Lynn Doucette paradoxerweise in den medialen Limbus abgeschoben, irgendwo zwischen eine Öllache im Becken 39 des New Yorker Hafens und den Brand eines Postschalters in New Jersey. Anscheinend befanden die Ressortleiter der Zeitung, dass eine alleinerziehende Mutter aus der nördlichen Chicagoer Vorstadt nur schwerlich dem Mythos des Piraten entspricht.
Das Ende der Geschichte bleibt ein Rätsel. Hat sie die 24 Monate Haft in voller Länge abgesessen, wurde ihr wegen guter Führung ein Straferlass gewährt oder hat sie sich über die Lüftungsanlage aus dem Gefängnis davongemacht? Hat sie das Sorgerecht für ihre Kinder wiederbekommen? Wurde ihr die besondere Weisung auferlegt, sich von jedem elektrischen Apparat weiter als zehn Meter entfernt zu halten? Arbeitet sie zum Mindestlohn in einem Burger King auf dem North Ridge Boulevard?
Joyce hebt ihr Glas und prostet Leslie Lynn zu. Dann schnappt sie sich ein Telefonkabel, das zusammengerollt unter dem Tisch liegt, und geht hinaus auf die Feuertreppe. Sie nähert sich dem Fenster des Nachbarn auf Zehenspitzen und wirft einen Blick zwischen die Vorhänge. Alles ist dunkel, niemand zu Hause.
Der Nachbar ist Lastwagenfahrer für eine Mineralölgesellschaft. Er fährt am Montag im Morgengrauen von Montréal los, kutschiert runter bis
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