Dickner, Nicolas
Halifax und kommt erst am Samstagnachmittag wieder. Seine Wohnung steht also 80 % der Zeit leer und Joyce hat dies genutzt, um die Telefonanlage ein wenig aufzupeppen : Anhand von Bedienungsanleitungen aus den Müllcontainern von Bell Canada hat sie einen kleinen Netzwerkverteiler gebastelt und ihn dann in der Lücke zwischen Feuertreppe und Außenwand verborgen. Das raffinierte Gerät gestattet es ihr, die Leitung des Nachbarn anzuzapfen, ohne irgendwelche Rechnungen oder einen Polizeieinsatz fürchten zu müssen.
Sie schließt ihr Kabel an und kehrt schleunigst wieder nach drinnen zurück. Sie weckt Jean Lafitte mit einem kleinen Stups und lauscht mit einem entspannten Lächeln auf den Lippen dem Knattern des Modems bei dem Versuch, sich zu verbinden – der Gesang eines Wales, der sich in die Stadt verirrt hat.
Das Modem wird wieder still. Die Verbindung steht und Eudora verkündet das Ergebnis des Tages: You have 34 new messages . Es dauert mehrere Minuten, bis die alle heruntergeladen sind.
Joyce schiebt ihren Stuhl nach hinten, schlürft einen Schluck Rum und schaltet das Radio ein. In den Lokalnachrichten wird bekanntgegeben, dass nahe der Abraumhalde Miron eine Demonstration böse geendet hat. Nachdem sie die Müllmänner bereits seit fast einer Stunde an der Arbeit gehindert hatten, brachen unter den Demonstranten interne Streitigkeiten aus. Die Gruppe spaltete sich daraufhin in zwei Fraktionen, die tätlich aufeinander losgingen. Nachdem sie die einander verprügelnden Demonstranten eine Zeitlang hatte gewähren lassen, nahm die Polizei neun Personen vorläufig fest. Das Motiv der Demonstration ist nach wie vor unklar.
Eudora holt Joyce mit einem strengen Piepen wieder zurück auf die Erde. Sie stellt ihr Glas ab und überfliegt die Nachrichten. In den meisten Fällen reichen der Betreff und der Name des Absenders, um den Inhalt zu erahnen: Kreditkartennummern werden geschickt, werden angefordert. Das Übliche.
Sie geht in ihre Datenbank und macht einige Abfragen. Die Ergebnisse veranlassen sie zu einem missmutigen Gesicht: Ihr Nummernvorrat kommt auf einen kritischen Stand. Sie hat so gut wie alles verscherbelt, und es wäre unvorsichtig, eine Expedition ins Geschäftsviertel zur Verbesserung der Versorgungslage noch länger aufzuschieben. Sie lehnt sich aus dem Fenster und blickt hinauf zum Himmel. Es bleibt ihr ungefähr noch eine Stunde bis zum Sonnenuntergang. Sie trinkt ihr Glas aus, füllt es erneut und beginnt, sich auszuziehen. Sie wirft ihre Arbeitskleidung im hohen Bogen auf den Haufen mit Schmutzwäsche und zieht sich eine schwarze Latzhose, ein schwarzes T-Shirt und einen schwarzen Wollpullover mit verworrenen Maschen an. Unter dem Bett holt sie ein Paar schwarzer Armeestiefel hervor, eine schwarze Taschenlampe, ein Paar schwarze Arbeitshandschuhe und den ehrwürdigen Seesack von Großvater Doucet – in marineblau.
Während sie sich anzieht, entwirft sie einen Angriffsplan. Ganz Downtown hat sie vollständig im Kopf, sorgfältig in Quadranten, Bezirke und Unterregionen gegliedert. Man angelt nicht einfach irgendetwas, irgendwo, irgendwann. Die Zusammensetzung der Abfälle ändert sich nicht nur von einer Seitenstraße zur nächsten, sondern auch entsprechend der Wochentage, Jahreszeiten, der Bewegungen an der Börse, der amerikanischen Außenpolitik.
Für Joyce ist das alles auf einer komplexen Karte angeordnet. Unter der Oberfläche rauschen gewaltige Schwärme an Informationen vorbei: Briefe, Passwörter, Organigramme, Rechnungen, Durchschläge auf Kohlepapier, Terminkalender voll mit Namen und Telefonnummern, nicht zu vergessen Festplatten, Disketten, Magnetbänder und CD-ROMs. All diese Informationen sind die Ausgangsbasis für die gezielten Aktionen, die sie danach auf Computern ausführt, die ironischerweise aus genau dem gleichen Müll stammen.
Wenn der letzte Tropfen Saft ausgepresst ist, entledigt man sich der Schalen in einem anderen Behältnis.
Beim Schnüren ihrer Stiefel fragt Joyce sich, was wohl Herménégilde Doucette, der Schrecken der Küsten Neuenglands, gedacht hätte, wenn er seine Ur-Ur-Ur-Enkelin hier sähe, wie sie einen Angriff auf die Abfallcontainer in Downtown vorbereitet. Zweifellos würde er einverstanden sein. Piraten sind schließlich pragmatische Leute.
Im Raum breitet sich ein zarter Geruch von Fisch, Kümmel und Limetten aus. Die Suppe auf dem Herd beginnt sich zu kräuseln.
Eine Portion Zukunft
Auf dem Trottoir schiebt ein Obdachloser mit
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