Dickner, Nicolas
Arizna ohne Vorwarnung und ohne ersichtlichen Grund ins Nachbarzimmer. Verwirrt fragt sich Noah, was für ein Floh sie wohl gebissen hat. Sie wirkt gelassener, als sie sich eine Minute später wieder zu ihm in den Salon setzt.
„Entschuldige. Du hast gerade vom Betreuer deiner Arbeit gesprochen . . .“
„Äh ja . . . Ich glaube nicht, dass er lange eingesperrt bleiben wird, aber die Fakultät wird sicher versuchen, ihn auszumustern. Während der Seminarzeit Demos mit seinen Studenten anzetteln gehört sicher nicht zu den Beschäftigungen, die im Arbeitsvertrag vorgesehen sind.
„Und was machst du jetzt?“
„Weiß nicht“, antwortet Noah und zuckt die Schultern. „Ich habe ein bisschen die Orientierung verloren. Ich könnte vielleicht nochmal von vorne anfangen. Einen Wohnwagen kaufen und zurück nach Saskatchewan gehen . . .“
Arizna unterbricht ihn mit streng erhobenem Zeigefinger. Sie spitzt die Ohren, springt unvermittelt auf und verschwindet erneut im Nachbarzimmer. Jetzt ist alles klar, nun ist Noah sicher, dass sich eine dritte Person im Penthouse versteckt hält: ein Beobachter, ein Leibwächter oder eine Art Komplize – aber Komplize bei was für Machenschaften? Er erinnert sich plötzlich an die Geschichte mit der Anthropologie der Befreiung, von der Arizna letzten Sommer erzählt hat, und er stellt sich vor – kurzer Flash –, wie ein halbes Dutzend Maquisarden unter dem Bett versteckt liegen.
Er steht auf und geht im Kreis, unentschlossen, ob er sich aus dem Staub machen soll oder nicht. Er geht einige Schritte in Richtung Ausgangstür, besinnt sich aber und beschließt, Mindestmaß an Höflichkeit, sich von Arizna zu verabschieden, bevor er verschwindet.
Als er das Schlafzimmer betritt, sieht Noah ein Bild, das er nicht im geringsten erwartet hätte: Ein Reisebettchen steht auf dem Boden, daneben ein Karton Wegwerfwindeln und ein Beutel mit kosmetisch-pharmazeutischen Produkten. Über das Bett gebeugt bepudert Arizna den Hintern eines Babys mit reichlichen Mengen an Talkum, während sie es mit leisem Singsang beruhigt. Sie reagiert auf Noahs erstaunten Blick mit einem kurzen Lachen.
„Darf ich dir Simón vorstellen?“
Sie legt die Windel an, knöpft den Schlafanzug zu und legt Noah, noch bevor dieser Zeit hat abzuwehren, das Kind in den Arm. Der Archäologe und das Baby betrachten einander neugierig, beide völlig überrumpelt. Noah kann sich Arizna nicht wirklich als Mutter vorstellen – und doch hat er den Beweis dafür in ebendiesem Moment auf dem Arm, ausgestattet mit einer rosa Nase, zwei Ohren, einem winzigen Geschlecht, einem vollständigen Satz Gliedmaßen und . . . und zwei Augen . . . die . . . ihn komischerweise an jemanden erinnern . . .
Vierter Elektroschock an diesem Tag: Diese Augen sieht er jeden Morgen im Spiegel! Es sind die Augen der Chipewyan, die sanften, skeptischen Augen, die er von Sarah geerbt hat – die das umgehend bezeugen könnte, wenn sie nicht gerade 3000 Kilometer entfernt irgendwo auf hoher See in der Nähe von Calgary wäre.
Er beginnt zu zittern. Simón, von dem Beben überrascht, kneift die Augen zusammen und fragt sich, ob er um Hilfe rufen soll.
„Er ist drei Monate alt, richtig?“, stammelt Noah nach kurzer arithmetischer Betrachtung der Umstände.
„Drei Monate und eine Woche.“
„Bin ich . . . Also . . . Wer ist denn der Vater?“
„Simón hat keinen Vater“, antwortet Arizna kategorisch.
„Keinen Vater?“
„Genau so ist es.“
Simón beginnt zu weinen und wedelt mit der Hand in Ariznas Richtung. Sie nimmt ihn zurück auf den Arm und holt aus ihrer zwischenzeitlich aufgeknöpften Bluse eine prächtige, zum Bersten volle Brust hervor. Die Areola verschwindet im Mund des Kindes, das ungestüm mit weit geöffneten Augen seine Portion Zukunft einsaugt.
Noah stopft den Inhalt seines Zimmers – dreißig Kubikmeter Kosmos – in die Plastikhaut von Müllsäcken, deren jeweiliges Schicksal er mit seinem Filzstift durch die Aufschrift Abfall, Recycling oder Heilsarmee bestimmt.
Er hat in der Uni angerufen, um Bescheid zu geben, dass er „für einige Zeit“ nicht da sein werde. Er hat sich bei der Gelegenheit auch gleich nach Thomas Saint-Laurent erkundigt. Alle seine Studenten sind freigelassen worden, doch der prominente Doktor der Archäologie würde wohl noch ein paar Tage im Gefängnis verbringen müssen. Ihm würden mit Sicherheit Geldstrafen für unbefugtes Handeln, illegale Zusammenrottung und Behinderung der Polizei
Weitere Kostenlose Bücher