Dickner, Nicolas
Erwachen aus einem langen Traum, dass sie am Schreibtisch von jemand anderem sitzt.
Beim Blick umher sieht sie nur einen einzigen vertrauten Gegenstand: das Foto von Susie Legault, Büroangestellte Nr. 3445, entsorgt in einem Abfallcontainer.
Nach und nach verliert sich der Geruch von geschmolzenem Plastik im Raum.
María Libre
Noah und Simón wirbeln aus dem Haus, in Sandalen und mit Handtuch um den Hals. Sie kommen aus dem Garten geschossen und rasseln direkt in den Briefträger. Nach einem kurzen Durcheinander rückt der alte Mann sich Käppi und Brille wieder zurecht und reicht Noah einen Umschlag.
Es ist ein Brief an Sarah, adressiert an die Poststelle in Relay und zurückgeschickt mit dem Vermerk: No Such Post Office.
Noah zuckt die Achseln und sie sausen wieder los. Simón, der wie immer zehn Meter voraus ist, ruft ihm zu, er möge sich gefälligst mal beeilen! An der nächsten Straßenecke springen sie in den alten himmelblauen Bus, der nach Juan Griego hinunterfährt. Beim Verlassen von La Asunción kreuzt die Fahrtroute des Busses den Luftkorridor des Flughafens von Santiago Mariño. Ein Brüllen erfüllt den Himmel und Simón steckt genau im richtigen Moment den Kopf aus dem Fenster, um zu sehen, wie der weiße Bauch einer Boeing im Zeitlupentempo die Baumwipfel streift. Das Flugzeug gewinnt an Höhe, schwenkt herum in Richtung Festland und löst sich in der Sonne auf – während der alte brechend volle blaue Bus in blechernem Donnern seine Talfahrt zum Meer fortsetzt.
Das einfache Glück einer Ausflugsfahrt mit dem Bus . . .
Streckenweise kommen Staub und Pollen durch die Fenster geflogen. Der Fahrer lenkt sein Fahrzeug mit sorgloser Hand, während er an den Knöpfen des Bordradios herumfummelt. Zwischen dem Rauschen empfängt das Gerät einige Takte Cumbia und Fetzen von Waschmittelwerbung. Drei Mal pro Kilometer muss der Bus Passagiere ein- oder aussteigen lassen. Bei jedem Halt ächzen die Bremsen, als drohten sie, auf den nächsten Metern den Geist aufzugeben. Beim Anfahren wiederum manifestiert sich das Getriebe mit gequältem Röcheln. In den Abständen zwischen diesen zwei Gefahrenmomenten kommt der Bus ohne allzu große Anstrengung voran, dank des Gefälles – muss man vielleicht dazusagen.
Nach einer unendlichen Reihe von Haarnadelkurven erreicht die Straße das Niveau des Meeresspiegels und läuft direkt auf das Wasser zu. Noah hofft jedes Mal, der Bus werde seinen Schwung behalten und weiter über das Meer auf den Horizont zurollen.
Hinter Juan Griego werden die Abstände zwischen den Häusern größer, die Umgebung der Straße füllt sich mit mehr und mehr Booten, Angelgerät, wackeligen Hütten – und da ist er endlich, der Strand María Libre. Bremsenkreischen und Getriebestöhnen, Noah und Simón befinden sich allein gegenüber der unendlichen Weite des Meeres.
Simón überquert die Straße in aller Eile, durchbricht das Wäldchen aus Kokospalmen, braust über den Strand, wobei er seine Kleider hinter sich verstreut, und springt gänzlich nackt in vollem Lauf in die Wellen. Vergnügt breitet Noah in der Mitte des Strandes die Bambusmatte aus, von wo er den Jungen problemlos im Auge behalten kann. Es begeistert ihn zu sehen, über was für Mengen an sprühender Energie der kleine Homo sapiens doch verfügt. Pausenlos kommt er aus dem Wasser geschossen und schwenkt einen neuen Schatz in der Hand: Goldstücke, Diamanten, Elfenbeinfiguren. Noah begutachtet die Artefakte mit Freudenschreien und lagert sie in einer alten Plastiktüte, dem behelfsmäßigen Tresor, der alsbald überquillt vor nassen Kieseln, abgeschliffenen Glasscherben und Muscheln, die hin und wieder durch den Fluchtversuch eines Einsiedlerkrebses ins Wackeln kommen.
Noah hatte, bevor er nach Margarita kam, noch nie im Leben einen Strand betreten, und diese späte Entdeckung überwältigte ihn. Den Blick verloren im Meer spürte er den Schwindel wieder, den man inmitten der weiten Ebenen von Saskatchewan empfindet. Das monotone Rauschen der Wellen erinnert ihn an den Wind in den Gerstenfeldern und versetzt ihn in einen Geisteszustand, der sich bestens für die Ausarbeitung verrückter Geschichten eignet, die er Simón noch am selben Abend erzählen würde.
Die Kulisse wäre perfekt ohne die Anwesenheit von Granma , dieser alten Jacht, die seit Jahren verlassen am Straßenrand vor sich hindämmert und deren Zustand sich unaufhörlich verschlechtert. Ihre Bullaugen wurden eingeworfen, der Rumpf verschwindet unter
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