Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
Vom Netzwerk:
wie eine Dampflok schnauft. Anscheinend hat er seinen Stuhl schon seit Tagen nicht verlassen und Noah fragt sich, ob er die letzte Nacht wieder im Archiv verbracht hat.
    „Hier ¡muchacho!“ , sagt Bernardo, als er ihm die dampfende Tasse hinhält. „Bereit, deine erste Partie für heute zu verlieren?“
    Noah zieht mit unbekümmerter Miene die Schultern hoch.
    „Du scheinst mir nicht sehr in Form“, befindet Bernardo, als er die Spielsteine auf dem Brett verteilt.
    „Kann nicht schlafen.“
    „Wieder Alpträume?“
    „Wieder diese Granma .“
    Mit einer Handbewegung lädt Bernardo ihn ein, die Partie zu beginnen. Noah trinkt einen Schluck Kaffee, kommt an den Tisch und setzt zerstreut den ersten Stein. Bernardo startet zum Gegenangriff in der gegenüberliegenden Ecke.
    „Arizna ist nach Caracas gefahren?“
    Noah schiebt einen Spielstein in die Mitte des Brettes. Bernardo antwortet mit einem Stein an der Westfront.
    „Wie hast du das erraten?“
    „Wegen der Alpträume.“
    Noahs Zeigefinger bleibt bewegungslos auf dem Spielstein liegen, den er gerade setzen wollte.
    „Was?“
    „Ist dir noch nie aufgefallen“, erklärt Bernardo, ohne den Blick vom Spielbrett zu heben, „dass du immer nur von Granma träumst, wenn Arizna nicht da ist?“
    Einen kurzen Moment lang sucht Noah nach einer entwaffnenden Antwort – doch gibt es, da Bernardo ja recht hat, darauf nichts zu erwidern.
    „Wie geht es deiner Mutter?“, fragt er schließlich, als er seinen Spielstein bewegt.
    „Danke gut. Und deiner?“
    „Keine Ahnung.“
    „Wo ist sie denn gerade?“
    „In der Gegend von Medicine Hat, nehme ich an. Den Dezember verbringt sie immer im Süden von Alberta.
    Hinten im Raum blättert der Ahnenforscher eifrig in seinem Verzeichnis. Das Unterfangen wirbelt soviel Staub auf, dass der alte Mann von Zeit zu Zeit in einer Wolke verschwindet – und man könnte glauben, er sei für immer verschwunden, würde er nicht in einem fort husten und schnauben. Bernardo wirft einen gereizten Blick in seine Richtung und verschiebt grummelnd einen Stein.
    „Was treibt er da eigentlich genau?“, fragt Noah. „Seit Jahren sehe ich ihn dieselben Papiere durchwühlen.“
    „Don Javier? Der ist halb verrückt. Er hat alle möglichen Theorien über Eheschließungen, Geburten, die . . . herencia ?“
    „Erbfolge.“
    „ Lo que sea. Er glaubt, dass man die Zukunft der Insel voraussagen kann, wenn man alle Familien von Margarita in einen einzigen Stammbaum zusammenfasst.“
    „Aha.“
    Die Staubwolke um den alten Mann wird dichter, verwandelt sich in einen wahrhaften Kumulonimbus. Ganz offensichtlich verheißen die alten Verzeichnisse nichts Gutes. Noah wirft einen schützenden Blick hinüber zu Simón. Der Junge hält ein Blatt fest gegen den Tisch gedrückt und reproduziert, bewaffnet mit einem grauen Filzstift, den Großen Sturm von 1780.
    „Hast du vor, bald wieder nach Caracas zurückzukehren?“, fragt Noah.
    Bernardo zögert. Er analysiert den letzten Zug seines Gegners, der die Westfront des Spielbretts bedroht.
    „Weiß nicht. Nächstes Jahr vielleicht.“
    „Hast du letztes Jahr auch gesagt.“
    „Nichts ist einfach mit meiner Mutter. Jedes Mal, wenn ich davon rede wegzugehen, droht sie damit, krank zu werden. Oder sie bittet mich, noch ein letztes Jahr zu bleiben. Oder aber sie geht in Hungerstreik. Oder sie startet den Versuch, mich mit Gladis, der Tochter der Nachbarin, zu verheiraten.“
    Sie schweigen. Bernardo kapert zerstreut einen von Noahs Spielsteinen.
    „Eigentlich hätte ich sofort nach der Beerdigung meines Vaters nach Caracas zurückgehen sollen. Jetzt wird die ganze Sache immer komplizierter. Ich werde nicht weggehen können, solange meine Mutter lebt und sie wird sicher 100 Jahre alt. Wenn das so weitergeht, werde ich ihr noch den Tod wünschen.“
    Er hebt die Augen vom Spielbrett, entsetzt darüber, das soeben Gesagte laut ausgesprochen zu haben. Sein Blick gleitet zu Don Javier, der nach wie vor in sein Verzeichnis versunken ist.
    „Ich hoffe, ich gehe weg, bevor es so weit kommt“, murmelt er.
    Noah fragt sich, ob Bernardo gemeint hat: „Weggehen, bevor ich meiner Mutter den Tod wünsche“ oder „weggehen, bevor ich so werde wie Don Javier“ oder aber „weggehen, bevor sich Don Javiers genealogische Voraussagen bewahrheiten“ – aber er fragt lieber nicht weiter nach, und der Rest der Partie Dame vollzieht sich in befangener Stille.
    Als Noah und Simón eine Stunde später mit einem

Weitere Kostenlose Bücher