Dickner, Nicolas
Sie geht an der Wand entlang, biegt an der dritten Säule ab, durchquert die Parkfläche in einem bestimmten Winkel, folgt wieder einem Stück Wand und gelangt so direkt zu den Abfallcontainern.
Sie öffnet den ersten in der Reihe und leuchtet mit der Taschenlampe hinein.
Im Lichtkegel erscheint ein Gesicht.
Joyce unterdrückt ein Zurückschrecken. Sie beruhigt sich augenblicklich wieder und analysiert kühlen Kopfes die Lage. Eine Frau ruht zwischen den Säcken – zweifellos eine Büroangestellte, die beim Personalabbau auf den Müll geworfen wurde. Unter ihrem beigefarbenen Kostüm ist der Körper perfekt mumifiziert: Die Gliedmaßen sind zusammengeschrumpft und die Haut hat die schimmernde Zähigkeit eines geräucherten Herings. Steif lächelnd und die Arme vor der Brust verschränkt, wartet sie mit der Gefasstheit einer ägyptischen Herrscherin auf die Leerung der Abfallcontainer.
Wie lange liegt sie hier wohl schon? Joyce schnuppert vorsichtig. Kein wahrnehmbarer Geruch. Sie tippt die Leiche mit der Fingerspitze an. Leicht wie Pappmaché. Auf ihren nächtlichen Touren hat sie schon einige absonderliche Dinge entdeckt, aber noch nichts, was mit dem hier vergleichbar wäre. Mit der Taschenlampe fährt sie von den Füßen hoch bis zum Kopf, fasziniert von dem kantigen Körper, den leeren Augenhöhlen. Sie hat den Eindruck, sich in einem Zerrspiegel zu betrachten.
Schließlich berappelt sie sich: Besser, sie treibt sich hier nicht allzu lange herum.
Als sie gerade den Deckel schließen will, bemerkt sie eine Identifikationskarte, die der Mumie an der Bluse steckt. Unter dem Foto in Schwarz-Weiß eine gewöhnliche Büroangestellte: Susie Legault/Nr. 3445. Joyce nimmt die Identifikationskarte sorgfältig ab und steckt sie sich in den Mantel. Dann schließt sie vorsichtig den Deckel des Containers, als fürchtete sie, die Mumie zu wecken.
Die unglaubliche Unordnung, die in der Wohnung herrscht, lässt an einen verrückten Geiselnehmer denken, der sich drei Tage lang in diesen vier Wänden verschanzt gehalten hat – doch da ist niemand außer Joyce, sowohl in der Rolle des Geiselnehmers als auch der des Opfers.
Gleich nach ihrer Rückkehr aus dem Geschäftsviertel hat sie sich unter ihre Schreibtischlampe geflüchtet, die Flasche Rum auf Backbord, die Bastelsachen auf Steuerbord. Es ist fast sechs Uhr morgens, und einiges ist noch zu tun. Sie zieht die Identifikationskarte aus der Tasche, untersucht sie sorgfältig. Dann, drei Schnitte, und sie hat den Plastikmantel mit der Rasierklinge aufgeschlitzt, das Foto herausgeschnitten. Sie klebt ihr eigenes in den frei gewordenen Platz, fälscht im Handumdrehen das Gültigkeitsdatum und schiebt das Ganze in ein Laminiergerät. Der Geruch von geschmolzenem Plastik breitet sich sogleich im Zimmer aus – der übliche Duft eines Identiätswechsels. Das Gerät spuckt die Karte wieder aus, heiß und schimmernd wie Keratin.
Von nun an heißt Joyce also Susie Legault.
Sie betrachtet ihre neue Haut mit einem Schaudern. Sie denkt zurück an diese Frau im Abfall und ihre unter dem Kostüm hervorstehenden Knochen.
Von einem Bücherbrett greift sie sich den Schuhkarton, in dem sich all die falschen Identitäten stapeln, die sie aus dem Müll gefischt hat: Geburtsurkunden, Zivilstandsurkunden, Studentenausweise, Passierkarten, elektromagnetisch oder mit Strichcode, Bibliotheksausweise, Videothek-Mitgliedskarten, ISIC Karten, Krankenversicherungskarten – und sogar einen Reisepass von ganz passabler Machart. Das gleiche Foto wiederholt sich Dutzende Male, immer auf die Schnelle in einem Fotoautomaten der Metrostation Berri-UQAM geschossen, das Billigportrait eines kleinen braven Mädchens, das sich für die Teilnahme an einem Doppelgänger-Kontest bewirbt.
Mit lässiger Geste wirft sie ihre neue Karte zum Rest der Sammlung.
Sie reibt sich die vor Müdigkeit geschwollenen Lider, zieht beim Laminiergerät den Stecker heraus und schiebt die Schreibtischlampe weg von ihren Augen. Der Lichtkegel fällt auf Leslie Lynn Doucette. Die Zeitungsausschnitte, die noch immer am selben Ort hängen, sind mittlerweile bernsteinfarben. So manches Mal hat Joyce das Internet durchkämmt, um das fehlende Bindeglied zu finden, das sie mit dieser weitentfernten Cousine verbindet. Trotz allen Suchens brachte sie lediglich Michael Doucets fruchtbar-folgenreichen Beitrag zum Cajun-Klan Beausoleil in Erfahrung, die Postanschrift des Elvis Doucette Auspuff-Service (4500 Road 67, Lafayette, Louisiana)
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