Dickner, Nicolas
langen Rostnasen. Auf dem Heck prangen, schon zur Hälfte abgefallen, der Name des Schiffes und der Heimathafen ( Tuxpan-Mexico ). Aufgedockt auf ihren Stützfüßen gleicht sie einem beängstigenden Stelzvogel, der zwischen den Kokospalmen lauert.
Aus den Augenwinkeln späht Noah hinüber zu Granma , eine sonderbare Beklommenheit erfasst ihn. Die alte Jacht ruft bei ihm Erinnerungen an Boatpeople wach, und er muss unweigerlich an die Familie kubanischer Flüchtlinge denken, die unlängst mit diesem alten heruntergekommenen Kahn in Miami Beach an Land getrieben wurde.
Er fragt sich, wie sein Leben wohl ausgesehen hätte, wenn er statt in einem Wohnwagen auf einem Boot aufgewachsen wäre.
Am Ende des Nachmittags versinkt die Sonne auf der anderen Seite der Bucht mit unvorhergesehener Abruptheit.
Mit der Hand über den Augen untersucht Noah den Himmel. Auf der Seite Trinidads hat der Horizont einen verdächtigen Trübungsgrad. Weit über den Hoheitsgewässern ziehen sich riesige Wassermassen zusammen – doch sieht man im Moment noch nichts als ein paar ahnungsvolle Federwolken, feine Eispartikel, die in 10.000 Metern Höhe in der Luft hängen.
Noah zieht sein Hemd aus und geht Simón angeln, dem schon Kiemen zu wachsen drohen und der den Ozean ansonsten gar nicht mehr verlassen würde. Er wirft sich den kleinen Rebellen mit grinsender Gelassenheit über die Schulter, bringt ihn zurück an Land und rubbelt ihn, taub für jeden Protest, kräftig mit dem Handtuch ab. Diese Szene wiederholt sich jedes Mal, wenn sie an den Strand gehen. Simón scheint der Prototyp einer neuen Menschengattung zu sein, die halb an Land und halb im Wasser lebt – doch vielleicht ist das auch nur das ganz normale Temperament eines Insulaners?
Sie ziehen sich wieder an, versuchen erfolglos den Sand aus ihren Kleidern zu schütteln und rennen, während sie die Chorizo-Sandwiches verdrücken, die ihnen María gemacht, zur Straße, um den alten himmelblauen Bus noch zu kriegen, der zurück nach Asunción hinauffährt.
Als sie sich entfernen, wirft Noah einen letzten Blick zum Palmenwäldchen. Wie ein spitzelnder Spion sitzt Granma schemenhaft auf ihren Stelzen.
Kolonialarchiv
Route 627, Saskatchewan.
Zu beiden Seiten der Straße erstrecken sich endlose Maisfelder so groß wie der Pazifische Ozean. Nichts stört die perfekte Horizontalität dieser unendlichen Ebene. Nichts bis auf eine winzige Silhouette im Südosten.
Auf den ersten Blick könnte man glauben, es sei ein auf Stelzen gesetzter Elefant, überthront von einer Pagode. Die Silhouette wird langsam größer und deutlicher – und schließlich ist es Granma , die auftaucht und auf ihren zwei Stelzenpaaren die Prärie durchwandert, wie geradewegs aus Salvador Dalís surrealem Bestiarium entstiegen. Querfeldein läuft sie weiter und weiter, ohne Rücksicht auf die Trassen im Feld, und reißt den Mais in wuchtigen Schüben auseinander. Bei jedem Schritt erklingt langes, metallisches Knarren und rostige Flocken rieseln vom Rumpf.
Sie stakst über die Route 627 und verschwindet in nordnordöstlicher Richtung.
Noah schreckt hoch und sitzt aufrecht im Bett, mit weit aufgerissenen Augen.
Er wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Der Wecker zeigt fünf Uhr morgens an, und die Raumtemperatur kommt nah an die 30° Celsius. Aussichtslos, bis zum Tagesanbruch noch einmal einzuschlafen.
Er knipst die Nachttischlampe an und reibt sich brummelnd die Augen. Er sucht ein Buch auf dem Nachttisch und findet nur eine zerrupfte Ausgabe von Moby Dick , die Arizna ihm geliehen hat. Mehrmals schon hat er versucht, dieses imposante Werk zu lesen, vergeblich: Herman Melville langweilt ihn. Vielleicht ist das letzten Endes das beste Mittel, um wieder einzuschlafen? Das Buch öffnet sich von selber beim 44. Kapitel. Noah überfliegt einige Absätze, aber Granmas bedrückende Anwesenheit liegt ihm immer noch schwer auf der Brust.
Er steht auf, ohne ein Geräusch zu machen, und geht hinaus in den Flur.
Im Nachbarzimmer schläft Simón tief und fest mit gekreuzten Armen und Beinen wie ein kleiner Stachelhäuter. In den Türrahmen gelehnt, bewundert Noah den unbeschwerten und ungestörten Schlaf des Kindes.
Er zieht die Tür leise wieder zu und geht hinunter in den Innenhof, um auf den Sonnenaufgang zu warten.
Nach vier Jahren im Exil auf Margarita hat Noah mit nur einer einzigen Person Freundschaft geschlossen: Bernardo Báez, Hauswart, Sekretär, Schatzmeister und Direktor des Kolonialarchivs von La
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