Dickner, Nicolas
und die Existenz der Niemann-Pick-Krankheit vom Typ D – einer Erbkrankheit, die vornehmlich in der akadischen Gemeinde Yarmouth County im Süden Neuschottlands auftritt, sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und durch die Eheschließung zwischen Blutsverwandten weitergegeben wird.
Sogar die imposanten Genealogie-Archive der Mormonen waren nicht in der Lage, die Verzweigungen ihres Familienstammbaums zu entwirren. Nichts über Leslie Lynn Doucette, auch nichts über Herménégilde Doucette oder über die Berufung zur Piraterei in der Familie. Anscheinend wusste Großvater Lyzandre etwas, das den Ahnenforschern entgangen war.
Jetzt noch die nächtliche Post durchgehen. Mit einem Stups weckt sie Louis-Olivier Gamache – den 57. Avatar dieser Gattung – und stellt die Verbindung zum Internet her. Nach gut einer Minute meldet Eudora: You have 96 new messages. Keine dieser Nachrichten ist an sie adressiert – seit zehn Jahren hat sie keine Post auf ihren Namen empfangen. Nirgends ein Liebe Joyce, Mlle Doucette , oder ein Grüß dich, Jo ! Die Piraterei erfordert die größtmögliche Anonymität und Joyce hielt sich stets hinter der einen oder anderen falschen Identität aus dem Müll verborgen.
Mit einem Augenaufschlag erfasst und vernichtet sie den Spam – jene Werbemails, die von Super-Hochleistungsrobotern generiert werden, die, ausgestattet mit einem Wirtschaftswörterbuch, einem Syntaxkorrektor und einer Ausgabe von How to Win Friends and Influence People , zehntausend neue Nachrichten pro Minute ausspucken können. Want to earn more money? Stop Your Hair Loss Now! Lose 30 Pounds In 30 Days, Guaranteed! Increased Sexual Potency! Hot Casino Action – Try For Free! Brand New – Just Launched – Be First!
Bleibt danach noch die Geschäftskorrespondenz, die in den verschiedensten Sprachen verfasst ist: im schwülstigen Slang der Cayman-Inseln, in telegrafischem Spanisch aus Mexiko oder elliptischem Japanisch aus Osaka – ganz zu schweigen von dem pittoresken Anglo-Russisch eines gewissen Dimitri, eines siebzehnjährigen Hackers aus Moskau unter perfusorischem Einfluss von Breschnew-Cola.
Mit trübem Blick sieht sie die Kreditkartennummern, IP-Adressen und Quelltextbrocken vorüberziehen. Zum zweiten Mal in dieser Nacht spürt sie eine schwere Verdrossenheit. Die kleine Welt der Piraterie lässt einen nach Luft japsen. Die Informationen tauchen von überall her auf, kursieren mit Höchstgeschwindigkeit und sind auch genauso schnell wieder obsolet. Ein Verschnaufen gibt es nicht, da sonst droht, überholt zu werden – und bald ist das Leben nur noch eine lange Liste von Verfallsdaten.
Joyce schaut auf ihre Uhr. In drei Stunden arbeitet sie im Fischgeschäft.
Sie gähnt und wirft einen Blick nach draußen. Der Himmel über Montréal färbt sich langsam blau. Für einen kurzen Moment hat sie den Eindruck, nicht aus einem Fenster zu sehen, sondern in eine weitere Bildschirmröhre. Sie drückt ihre Nase gegen die Scheibe und sucht mit den Augen das Gebäude auf der anderen Straßenseite ab. Vorhänge werden aufgezogen, die Familien wachen eine nach der anderen auf. In dem winzigen Fenster eines Badezimmers rasiert sich ein Mann vorsichtig und hält dabei mit dem Zeigefinger die Nase aus dem Weg. Zwei Fenster weiter bereitet eine Frau das Frühstück vor, während ein zotteliges Mädchen am anderen Ende des Tisches schnell ihre Mathematikhausaufgaben hinkritzelt.
Joyce hat den Eindruck, am Rande einer wunderbaren und unbegreiflichen Welt zu leben. Jenseits dieses Fensters geschahen die Dinge von selber, ohne dass man sie aufhalten oder die ihnen eigene Logik ändern konnte. Jede Sekunde, jeder Augenblick vollzog sich zum ersten und letzten Mal. Es war unmöglich, diesen Prozess zu unterbrechen, umzukehren oder eine Sicherungskopie davon zu erstellen.
Joyce’ Atem beschlägt die Scheibe. Die Welt draußen verschwimmt langsam, die Wirklichkeit wird immer relativer. Sie wischt mit dem Ärmel über das Fenster. Auf der anderen Straßenseite hat das zottelige Mädchen seine Mathematikhausaufgaben beendet und packt ihre Hefte in einen Rucksack mit knallig bunten Farben.
Joyce fängt an zu zittern. Obwohl es warm in der Wohnung ist. In der Hoffnung, dort einen Ankerpunkt, eine Gewissheit zu finden, wendet sie sich dem Computer zu, aber der Zauber ist verflogen: Die Worte auf dem Bildschirm richten sich nicht mehr an sie. Die Gegenstände um sie herum erscheinen ihr fremd – als entdecke sie, beim
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