Dickner, Nicolas
Asunción – dessen Archiv sich auf einige Stapel Kisten in den Kellern des Rathauses beschränkt.
Als Jugendlicher hatte Bernardo einen großen Traum: Er wollte Unterwasserarchäologe sein und am Mittelmeer leben. Jede Nacht entdeckte er in den türkisfarbenen Wassern seiner Obsession phönizische Schiffswracks, alexandrinische Sphinxe, versunkene Amphoren. 1993 geht er nach Caracas, um Geschichte zu studieren, die erste Etappe einer zentrifugalen Reise, die ihn von seiner Heimatinsel theoretisch immer weiter wegführen sollte.
Er genoss zwei Jahre Freiheit in der Hauptstadt, bis sein Vater bei einem Angelunfall ertrank. Bernardo kam zum Begräbnis zurück und beschloss, ein paar Wochen zu bleiben, um seiner Mutter zu helfen, die sich kategorisch weigerte, Margarita zu verlassen. Geplant war, dass er nur vorläufig bliebe. Aus vorläufig wurde übergangsweise und aus übergangsweise wurde dauerhaft – seit vier Jahren steckt Bernardo jetzt in der Eintönigkeit dieser sonnendurchtränkten Insel fest. Die Arbeit im Kolonialarchiv verrichtet er halbherzig, eine unterbezahlte Sinekure, die nicht viel mehr einbringt, als Muschelhalsbänder an Touristen zu verkaufen. Niemand kommt das Archiv anschauen, mit Ausnahme des alten Javier Fulano, einem stillen, hundertjährigen Ahnenforscher, der alle zwei Tage nach Ende der Öffnungszeiten eingeschlossen wird.
Überflüssig zu sagen, dass Bernardo Noah jeden Morgen wie einen Retter empfängt.
Die beiden Komparsen krempeln die Ärmel hoch, setzen sich an den riesigen Arbeitstisch und spielen Dame. Von der Öffnung bis zur Schließung schlagen sie die Zeit mit faulem Figurenschieben tot, trinken Instantkaffee mit zu viel Zucker, reden über Unterwasserarchäologie, über venezolanische Politik oder den neuesten Klatsch des Ortes. Noah korrigiert Bernardos Französisch, der wiederum Noahs Spanisch korrigiert.
Bernardo ist der einzige Insulaner, der die volle Wahrheit über Noah kennt – und diese Mitwisserschaft verpflichtet ihn, die unzähligen Geschichten zu dementieren, die über ihn erzählt werden. Wenn man ihn befragt, versichert er, dass Noah wie ein Besessener an seiner Doktorarbeit über die Garifuna arbeitet. Freundschaft ist manchmal wichtiger als Wahrheit.
Als Noah ihm seine Geschichte anvertraute, musste Bernardo herzlich lachen. „Wenn die Leute wüssten, was sich wirklich in dem Archiv befindet!“, sagte er. Denn der Großteil der interessanten Dokumente war 1816 im Unabhängigkeitskrieg verbrannt. Von den ursprünglichen Archivbeständen existieren heute nur noch einige Bündel genealogischer Verzeichnisse mit Kirchengründungen, anonymen Ertrunkenen und Grundbuchauszügen in wahlloser Reihenfolge, und das alles wild durcheinander zusammengeschnürt in ungefähr dreißig Pappkartons, die an Tagen mit hoher Luftfeuchtigkeit einen markanten Brandgeruch verströmen.
Genau dieser rußige Duft ist es, der in der Luft liegt, als um Punkt neun Uhr Noah und Simón durch die Tür des Archivs treten.
Simón geht voran und scheint recht froh darüber, hier zu sein – wenn auch bei reiflicher Überlegung ein Tag im Archiv nicht ganz so gut ist wie ein Tag am Strand. Sich die Hände reibend durchquert er den Raum, öffnet mit routinierter Gelassenheit einen der Schränke, entnimmt ihm eine Handvoll Farbstifte und einen Stapel weißes Papier. Sobald er die Ausstattung als hinreichend befunden hat, setzt er sich seitlich an einen Tisch und beginnt zu zeichnen.
Folgt Noahs Auftritt mit schlurfenden Schritten, er ist sichtlich übernächtigt. Er hält im Türrahmen inne und schnuppert.
„Man könnte meinen, es gibt bald Regen“, murmelt er.
„Liest du denn keine Zeitung?“, erwidert Bernardo, der gerade mit einer Ausgabe der Últimas Noticias von der Toilette kommt. „Sie haben für die ganze Woche Gewitter angekündigt.“
„ Carajo “, murrt Noah nach einem langen Gähnen. „Was stinkt das hier nach alter Holzkohle.“
Er kräuselt die Nase und besinnt sich eines Besseren:
„Sag mal, riecht es hier nicht auch nach frischem Instantkaffee?“
„Einen doppelten mit schön viel Zucker?“
„Wenn du darauf bestehst.“
Während Bernardo das infame Getränk zusammenbraut, schaut Noah zu, wie Simón sich mit seinen Stiften betätigt. Auf dem Nachbartisch wurden bereits das Damebrett und die Schachtel Spielsteine bereitgestellt, Vorgeschmack auf einen scheinbar ganz normalen Tag. Hinten im Raum schaut Javier Fulano ein dickes Verzeichnis durch, wobei er
Weitere Kostenlose Bücher