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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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viertausend Insulaner wurden zur Selektion auf der winzigen Insel Baliceaux geparkt, wo man sie einen Monat lang verhungern ließ. Danach sortierte man die Überlebenden nach ihrer Hautfarbe. Die mit der hellsten Haut wurden zurück nach St. Vincent geschafft (wo es plötzlich an billigen Arbeitskräften mangelte), während die dunkelsten – in diesem Fall die Garifuna – ein weiteres Mal in den Laderaum eines Schiffes gepfercht und deportiert wurden.
    Nach einer mehrwöchigen Reise setzte man sie in der Nacht vom 12. April 1797 vor der honduranischen Küste auf der Insel Roatan aus.
    Geschwächt von den Lebensbedingungen der letzten Monate waren die Deportierten dazu verurteilt, an Entkräftung zu sterben, von den Mücken gefressen oder den spanischen Siedlern liquidiert zu werden. Das dachten zumindest die Briten. Entgegen allen Erwartungen überlebten sie, durchquerten den Kontinent und versprengten sich von Nicaragua bis Britisch-Honduras. Zweihundert Jahre später waren die Garifuna noch immer in Mittelamerika zugegen: Sie gingen nach wie vor fischen, kochten mit Maniok, unterhielten sich in der Sprache ihrer Vorfahren und fürchteten die Geister, die an der Mündung der Flüsse leben, dort wo Süß- und Salzwasser aufeinandertreffen.
    Und niemand, nicht einmal die größten Ethnologen, versteht genau, aufgrund welcher subtiler Mechanismen es diesen Waisenkindern gelungen war, trotz Exil und Entwurzelung ihre Identität zu bewahren.
    Noahs Leben auf dieser Insel beschränkt sich im Großen und Ganzen auf das Erzählen von Geschichten: Abends erfindet er evolutionistische Fabeln über Charles Darwin und tagsüber gibt er vor, auf Margarita zu sein, um eine Doktorarbeit über die Garifuna zu schreiben.
    Fragt jemand nach, so gibt er vor, sich für die Beziehung zwischen den mündlichen Überlieferungen und den Kolonialarchiven zu interessieren. Denn, so bekräftigt er, einige frühe Archivbestände seien auf der Isla Margarita noch immer erhalten, und zwar in den Kolonialarchiven von La Asunción, um ganz genau zu sein, keine zehn Gehminuten vom Haus der Burgos entfernt – was letztlich einen idealen Vorwand dafür bietet, um unter ein und demselben Dach zu wohnen wie Simón.
    Arizna nimmt ihm die Geschichte ab. Sie erinnert sich gut an ihre erste Unterredung im fünften Stock der Uni-Bibliothek, und es erscheint ihr plausibel, dass Noah sich für Fragen zu Umsiedlung, Herkunftsgebiet und Identität interessiert. Sie bat ihn sogar einige Male darum, einen Artikel über die Garifuna für El Pututo zu schreiben, aber jedes Mal brachte er es zustande, sich dieser Pflicht auf geschickte Weise zu entziehen.
    Aus ihm ist wirklich ein begabter Geschichtenerzähler geworden.
    Bis eines Tages ein wirklicher Garifuna-Experte nach Margarita kommt und ihn enttarnt, kann er sich hier ein schönes Leben machen: Er gibt vor zu forschen, verdient sich mit Englisch- und Französischunterricht etwas dazu, freut sich an der Sonne und geht, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet, mit Simón an den Strand.

Keratin
    Nachts um halb eins. Zwischen den Hochhäusern ziehen clementinefarbene Wolkenfetzen vorbei. Ein paar Schneeflocken gaukeln durch die Luft. Es herrscht eine Atmosphäre wie in einem japanischen Comic fünf Minuten vor dem Weltuntergang.
    Joyce rückt ihren Schal zurecht. Sie steht vor der Einfahrt einer Tiefgarage und beobachtet mit seltsamer Gleichgültigkeit das gelbe Licht, in das die Szene getaucht ist. Diese Tiefgarage ist eine wahrhaftige Ali-Baba-Höhle – mangelhafte Überwachung, viele Müllcontainer, oft mit guter Beute. Aber heute Abend sieht sie nichts als eine eiskalte Krypta vor sich, die nach Beton und Motoröl stinkt.
    Dieses plötzliche Desinteresse stimmt sie nachdenklich. Sollte das heißen, dass es an der Zeit ist, in den Ruhestand zu treten? Sie schaut auf ihre Uhr. Die letzte Metro geht in zehn Minuten. Sie könnte zurück nach Hause fahren, warm baden und die Flasche Rum leeren – dann fällt das Andenken an Herménégilde Doucette eben ins Wasser.
    Zwei Straßenecken weiter südlich hört man die Sirene eines Polizeiautos vorbeirauschen. Joyce zieht die Schultern nach oben und taucht ab in die Garage. Kein Lebenszeichen. Hier und dort stehen ein paar verlassene Fahrzeuge zwischen Öllachen und Abfall. Ihre Besitzer machen sicher gerade Überstunden, zwölf Stockwerke höher. Joyce wirft einen herablassenden Blick in Richtung Überwachungskameras: Sie weiß, wie man hier ungesehen vorbeikommt.

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