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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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Bündel eingerollter Zeichnungen unter dem Arm das Kolonialarchiv verlassen, beginnen die ersten Regentropfen zu fallen.

Überallhin zugleich
    Drei Tage regnet es jetzt schon. Seit heute morgen hoffe ich auf das plötzliche Erscheinen eines ungewöhnlichen Kunden – ein bewaffneter Sadist, ein Blaubart oder ganz einfach ein Buchladendieb –, aber noch niemand ist zur Tür hereingekommen, und ich habe den bisherigen Tag eingewickelt in meine Träume und eine alte Wolldecke verbracht.
    Ich strecke mich und schaue blinzelnd auf die Wanduhr. Fünf vor fünf. Ich beschließe, schon jetzt Feierabend zu machen, zum Teufel mit der Genauigkeit. In dem Augenblick, als ich mich erheben will, klingelt das Glöckchen und die Tür, hinter der das Gewitter tobt, öffnet sich kurz. Sobald das Spritzwasser die Sicht freigibt, erkenne ich meine Lieblingsbücherdiebin in einem Regenmantel mit schwarzen Nähten und einer bis zu den Knien hinauf durchweichten Jeans. Sie grüßt mich mit einem Nicken, stellt ihren Seesack auf der Fußmatte ab und ist, ohne dass ich die Zeit gehabt hätte, ein Wort zu sagen, zwischen zwei Regalen verschwunden.
    Die ganze Szene geht so schnell über die Bühne, dass ich, wenn der Seesack und die immer größer werdende Pfütze um ihn herum nicht wären, zu träumen glaubte. Ich reibe mir die Augen und sehe ins Schaufenster. Kein Buchhändler, der einigermaßen bei Verstand ist, würde bei so einem Sauwetter Überstunden schieben. Ich winde mich aus meiner Decke und gehe in die Abteilung Kochbücher. Von der Frau keine Spur. Ich recke den Hals in Richtung Informatik. Auch da ist sie nicht. Ich kratze mich am Kopf. Irgendetwas läuft nicht ganz rund im Kosmos.
    Ich entdecke die Frau im hinteren Teil der Buchhandlung, in der Nähe der Toiletten, vor dem Regal mit den Reiseführern. Ohne sie in irgendeiner Weise brüskieren zu wollen, frage ich, ob sie Hilfe benötige. Sie dankt mir zerstreut und versichert, dass sie alleine zurechtkommen werde.
    „Es ist fast fünf Uhr. Ich werde bald schließen.“
    „Ah ja?“, sagt sie und schaut auf ihre Uhr. „Tut mir leid. Ich habe nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen ist.“
    „Kein Problem. Hast du gefunden, was du wolltest?“
    „Nicht wirklich. Ich suche einen Reiseführer.“
    Ich warte darauf, dass sie genau sagt welches Land – Fidschiinseln, Japan, Madagaskar –, aber sie fügt nichts weiter hinzu. Der Satz endet so abrupt, als sei das Reiseziel ganz und gar nebensächlich. Ich nehme wieder Haltung an, spiele den, der es vollkommen normal findet, dass man sich willkürlich irgendeinen Reiseführer beschaffen möchte, um willkürlich irgendwohin zu fahren.
    Bedauerlicherweise, erkläre ich ihr, ist unsere Buchhandlung mit Reiseführern nur sehr mangelhaft ausgestattet, egal, wohin die Reise gehen soll. Natürlich verfügen wir über eine Reise-Abteilung – die ist ja obligatorisch – aber, um ganz ehrlich zu sein, nehme ich mir die meisten Reiseführer, die hier eintreffen, nach und nach mit nach Hause. Jeder hat so seine kleinen Macken.
    Die Frau wirkt zerknirscht. Unerschrocken mache ich den Vorschlag, ihr einen Reiseführer aus meiner persönlichen Sammlung zu borgen. (Ich mache eine leichte Betonung auf dem Wort borgen , aber sie reagiert nicht.)
    „Ich fahre sehr bald“, sagt sie nach einem kurzen Zögern. „Ich werde nicht die Zeit haben, es dir zurückzugeben.“
    „Dann nimmst du es einfach mit. Bücher müssen reisen. Du gibst es mir wieder, wenn du wieder da bist, oder du schickst es mir per Post, mit exotischen Briefmarken drauf.“
    „Ich weiß nicht . . . Ich will auch nicht zu viele Umstände machen.“
    „Ich bestehe darauf! Du musst mir nur sagen, welche Art von Reiseführer du suchst. Ich bringe dir morgen ein Dutzend mit, und du kommst einfach noch mal vorbei, um dir einen auszusuchen. Wäre dir das recht?“
    „Morgen ist es zu spät. Könnten wir uns heute Abend treffen?“
    Überrumpelt sage ich ja und kritzle ihr meine Adresse auf die Rückseite einer Visitenkarte von der Buchhandlung.
    „Das ist in Petite Italie, direkt gegenüber vom Parc Dante . . .“
    „Ich kenne die Gegend. Sagen wir gegen sieben?“
    Ich nicke zustimmend. Sie steckt lächelnd die Karte ein und geht zur Tür, ohne etwas hinzuzufügen. Gerade als sie hinausgehen möchte, komme ich wieder zur Besinnung und frage sie nach ihrem Namen.
    „Joyce“, sagt sie nach kurzem Zögern.
    Eine Sekunde später verschluckt sie der Orkan.
    Bewegungslos

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