Dickner, Nicolas
Couch. „Tee . . .“, flüstert sie und schnuppert an der Tasse. Sofort scheint eine sonderbare Spannung ihren Körper zu verlassen. Sie wirkt plötzlich erschöpft, mit Ringen unter den Augen, ein wenig gebeugt.
„Als ich klein war, ging ich jeden Tag nach der Schule zu meinem Großvater. Er hatte eine Teekanne aus Zeiten der Ming-Kaiser, blau-weißes Porzellan mit einem langen Riss quer drüber und innen ganz rot. Wir tranken zusammen bitteren Tee und er erzählte mir Piratengeschichten.“
Sie gähnt, macht eine Pause. Ihre Augen werden immer schmaler, geschwollenen vor lauter Müdigkeit. „Welche Art Piraten denn?“, frage ich, um sie zu ermuntern, mehr zu erzählen.
„Alle möglichen Piraten. Ich glaube, er hatte seine Geschichten aus einem alten Seefahreralmanach. Doch er erzählte vor allem von unseren Vorfahren. Anscheinend ist mein Ur-Ur-Ur-Großvater ein berühmter akadischer Pirat gewesen. Hab das nie nachprüfen können. Er hat mir so oft davon erzählt, dass ich schließlich selbst Pirat werden wollte. Meine Cousins meinten, dass es keine Frauen als Piraten gibt, aber je öfter sie das sagten, umso mehr wollte ich ihnen das Gegenteil beweisen. Kinder haben manchmal komische Ideen.“
„Überhaupt nicht. Übrigens hat es Piratinnen gegeben. In der Mannschaft von Calico Rackham waren zwei.“
„Bei Rackham dem Roten Korsaren!?“, ruft sie laut und bricht in Lachen aus. „Verwechselst du da nicht etwas mit einem Heft von Tim und Struppi?“
„Hergé hat sich immer an wahren Begebenheiten inspiriert. Der echte Rackham der Rote hat im 18. Jahrhundert auf den Bahamas gelebt. Er hieß Jack Rackham, wurde aber Calico Rackham genannt. Er machte eine recht banale Piratenkarriere und die Engländer haben ihn nach einigen Jahren gehängt.“
Sie richtet sich auf, sichtlich beflügelt durch das Gespräch.
„Mein Großvater hat mir nie von ihm erzählt. Wer waren die beiden Frauen?“
„Ich habe ihre Namen vergessen. Eine der beiden nannte sich Bonny irgendwas.“
„Bonny Parker?“, fragt sie scherzhaft.
„Weiß nicht mehr. Aber sie sind ziemlich berühmt. Es gibt die Legende, sie wären die beiden einzigen gewesen, die das Schiff verteidigten, als die Engländer es geentert haben. Der Rest der Mannschaft hätte sich sturzbesoffen im Laderaum versteckt.“
„Romantisch!“
„Ich habe ein Buch darüber, wenn dich das Thema interessiert.“
Ich habe das betreffende Werk deutlich vor Augen: Es ist das Dreiköpfige Buch ohne Einbanddeckel, das eine Kundin im Herbst ’94 in der Buchhandlung vergessen hat.
Während ich mich auf den Bücherschrank zubewege, merke ich, dass ich dieses Buch schon seit einer ganzen Weile nicht mehr gesehen habe. Mir springt sofort eine ganze Reihe von Bänden ohne Einband ins Auge – ich liebe Bücher, die ein hartes Leben hatten. Ich greife mir das erste, aber es ist nur die zerfledderte Ausgabe des Ashley Book of Knots . Bei dem zweiten Werk glaube ich mehr Glück zu haben, doch ist es die 1945er Ausgabe von Der Sankt Lorenzstrom und seine Inseln von Damase Potvin. Das dritte ist eine Billigausgabe von Robinson Crusoe und das vierte ein Fragment der Japan Expedition by Robert Perry .
Nachdem ich meinen gesamten Buchbestand durchsucht habe, muss ich mich der Einsicht beugen: Mir ist ein Buch abhanden gekommen, eine außergewöhnliche Verfehlung, die mich zur Schande der Buchhändlergilde macht. Letztlich entscheide ich mich, in einem stinknormalen Reiseführer über die Bahamas nachzuschauen.
„Hast du’s gefunden?“, fragt Joyce, während sie sich Tee nachschenkt.
„Nein“, antworte ich und werde rot. „Aber da Jack Rackham seinen Sitz auf der Providence-Insel hatte, müsste er in der Geschichte der Bahamas erwähnt werden.“
„Liegt die Providence-Insel nicht nördlich von Haiti?“
„Nein“, erkläre ich und gehe derweil das Inhaltsverzeichnis durch. „Das ist die Insel, auf der Nassau liegt. Heute heißt sie übrigens New Providence.“
Ich blättere durch die Seiten des Führers auf der Suche nach dem Geschichtsteil. Joyce ist näher gekommen, den Blick starr auf mich gerichtet.
„Was trägst du da um den Hals?“, fragt sie.
„Einen Nikolski-Kompass.“
„Einen was ?“, fragt sie weiter und streckt die Hand nach dem Kompass aus.
Ich weiß nicht warum, aber diese Frau erweckt Vertrauen in mir. Ich lege den Reiseführer über die Bahamas zur Seite und ziehe das Band vorsichtig über den Kopf – aber meine Hände zittern und der
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