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Dickner, Nicolas

Dickner, Nicolas

Titel: Dickner, Nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nikolski
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Kompass rutscht mir aus den Fingern. Ich verstehe noch nicht ganz, was passiert, was passieren wird. Ich sehe den Kompass in Zeitlupe zu Boden fallen. Das Gehäuse zerschellt mit dem Geräusch von berstendem Plastik. Die innere Kugel, aus ihrer Einfassung befreit, tickt über den Holzboden, hopst Joyce zwischen den Füßen hindurch, zeigt, während sie das Wohnzimmer durchquert, überallhin zugleich und rollt in den Lüftungsschacht, der in der Mitte des Raums den Rachen aufsperrt.
    Ich falle vor dem Loch auf die Knie, gerade noch rechtzeitig, um zu hören, wie das Herz des Kompasses immer leiser gegen das Blech des Luftkanals pocht, bis es weit unter der Bodenfläche in Stille erlischt.
    Das Warmluftgebläse nutzt die Gelegenheit, um loszurattern und mir einen höhnischen Luftschwall ins Gesicht zu jagen.

Die Bestie
    Ich öffne die Tür zum Keller und betätige den Lichtschalter, aber nichts tut sich. Die Birne ist noch immer durchgebrannt, man muss sich bis zum nächsten Schalter vortasten. Ich zögere, mich auf die dunkle Treppe vorzuwagen. Aus mir unerklärlichen Gründen stehe ich in geschlossenen Räumen stets vor den sonderbarsten Problemen.
    Joyce schaut über meine Schulter hinweg in das Dunkel. Ich hatte ihr geraten, oben ruhig in Gesellschaft von Teekanne und Reiseführern zu warten, aber sie bestand darauf, mich zu begleiten, unter dem Vorwand, sie schliefe sofort ein, wenn ich sie zwei Minuten alleine ließe.
    Mit vorsichtigen Schritten wage ich mich vor auf die Treppe. In meinem Rücken zählt Joyce flüsternd die Stufen. Sie scheint länger als normalerweise, diese Treppe. Ich habe den Eindruck, 20.000 Meilen unter den Erdboden zu tauchen: Die Wände sind bedeckt mit kleinen Schneckenhäusern, die ich noch nie zuvor bemerkt hatte, und nach mehreren Minuten – und „135 Stufen“, wie Joyce bemerkt –, verschwindet die Treppe in pechschwarzem Wasser.
    „Scheiße, die Drainagepumpe ist schon wieder verstopft! Schon das zweite Mal diesen Herbst.“
    „Ist es tief?“, fragt Joyce.
    Ich taste mich ein bisschen vor, um die Lage zu prüfen, und mache einen Schritt zu viel. Ich verliere den Boden unter den Füßen, versuche mich am Treppengeländer festzuhalten, rutsche die letzten Stufen auf den Absätzen hinunter und versinke bis zum Knie in dem eiskalten Wasser. Vor lauter Kälte und Überraschung verschlägt es mir den Atem. Ich drehe mich zu Joyce, um ihr zu sagen, dass wir schleunigst zurück nach oben in die Wohnung gehen. Zu spät: Sie kommt zu mir hinunter ins Wasser gestiegen, offenbar ist sie vollkommen kälteunempfindlich.
    Sie quittiert mein Erstaunen mit einem kurzen Lächeln und zuckt die Schultern:
    „Ich weiß. Ich bin nur gekommen, um einen Reiseführer auszuleihen. Aber . . .“ (Sie macht ein paar schnelle Handbewegungen in Richtung Dunkelheit) „. . . wir müssen doch deinen Kompass wiederholen, oder?“
    Was soll ich darauf sagen, jetzt wo wir beide im eiskalten Wasser stehen. Ich zucke meinerseits die Schultern und wir tauchen wie Tiefseetaucher ins Halbdunkel ein. Ich taste wild mit dem Arm herum auf der Suche nach dem Lichtschalter, aber Joyce kommt mir zuvor, und ich höre sie die Kette ziehen.
    Es wurde Licht – eine alte 20-Watt-Birne an einem blanken Draht – und das Biest tritt aus der Finsternis.
    Vor der Heizungsanlage unseres Gebäudes habe ich eine schwer zu erklärende Angst. Dabei handelt es sich lediglich um ein ganz gewöhnliches Warmluftgebläse mit Heizölbetrieb aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, ein massives, dralles Gerät, einst weiß gestrichen, heute aber mit zahlreichen Narben und Beulen bedeckt. Durch das Gitter der Feuerung ziehen sich dünne Rußfäden ins Wasser, und auf der riesigen quadratischen Stirn des Gerätes zeichnen zwei Schraublöcher ein rot glimmendes Paar Augen. Diese zwei Schraublöcher hielten einstmals ein Messingschild, das jetzt auf dem Rand des Gebläses liegt. Glaubt man den Spuren im Staub, wurde das Schild, seit ich es mir vor acht Jahren einmal genauer angeschaut hatte, hier nicht fortbewegt.
    Auf dem Schild befindet sich der Stammbaum der Bestie, eingraviert in Messing:
    MANUFACTURED IN 1921 BY
    Levi Athan & Co.
    NANTUCKET, MASSACHUSETTS
    Acht Winter in diesem Gebäude haben es mir erlaubt, die respiratorischen Gewohnheiten des Warmluftgebläses mit eingehender Sorgfalt zu studieren. Es beginnt immer mit einem langen Atemzug, der danach in mehrere kurze Seufzer zerfällt. Zehn Minuten lang setzt es um die sechzig

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