Dickner, Nicolas
stehe ich vor der Tür und sehe zu, wie das Glöckchen im Leeren baumelt. Die Uhr zeigt 17:03 Uhr. Ich werfe im Hüpfschritt ein Bein in die Luft und mache mich daran, den Laden zu schließen. Heute muss ich keine Tageseinnahmen zusammenzählen – das Privileg der Tage, an denen nichts verkauft wurde – und begnüge mich damit, die Registrierkasse in ihr gewohntes Versteck zu stellen, hinter der zehnbändigen Enzyklopädie der Schiffskatastrophen .
Draußen verschwindet die Rue Saint-Laurent unter einem bräunlichen Sturzbach. Alles, was beweglich ist, wird von dem Strom erbarmungslos mitgerissen: Zeitungen, Handschuhe und Mützen, Verpackungen von Fast Food, zerknüllte Plastiktüten, die mit den Schwimmbewegungen von Quallen in der Strömung treiben. Kein Auto in Sicht, niemand auf den Gehsteigen.
Ein Vorgeschmack auf das Ende der Welt.
Als ich bei mir zu Hause ankomme, gleiche ich einem Ertrunkenen, den die Québecer Rettungsschwimmer soeben frisch aus den Fluten gefischt haben. Ich ziehe die Schuhe aus, wringe schnell das Wasser aus meinen Socken und durchquere das Wohnzimmer, ohne Licht zu machen. Irgendwo mitten im Halbdunkel stolpere ich über das Lüftungsgitter, das ich seit zwei Monaten wieder festschrauben wollte. Ich knicke um und plumpse auf den Boden. Das Gitter rutscht über die glatten Dielen und verschwindet im Dunkeln.
In genau diesem Moment klopft es an der Tür. Hinkend gehe ich aufmachen.
Es ist Joyce, eine Stunde zu früh. Sie stellt ihren alten Seesack in den Flur und hängt zitternd ihren Regenmantel auf.
„Bin ich zu früh?“
„Überhaupt nicht“, lüge ich und massiere mir den kleinen Zeh. „Du siehst aus, als hättest du Kap Horn in einem Pappkarton umsegelt. Willst du einen trockenen Pulli?“
„Nein danke.“
„Und irgendetwas Warmes?“
„Nehme ich gerne.“
Ich hinke bis in die Küche. Während ich den Wasserkessel fülle, schleudert Joyce ihre Stiefel in eine Ecke des Flurs und wagt sich ins Wohnzimmer vor.
„Pass auf, wo du hintrittst, da ist ein Loch im Boden.“
Die Warnung ist überflüssig, sie hat den Lichtschalter gefunden. Aus der Finsternis tauchen plötzlich Seeschlangen und gehörnte Walfische auf, die Wasserfontänen aus den Nasenlöchern stoßen.
Belustigt betrachtet Joyce das Faksimile einer Seekarte von 1675, die am Rand mit Windrosen und legendären Seemonstern verziert ist. Sie rückt ihre Brille zurecht und nähert sich der Karte – offensichtlich interessiert am Seegebiet um die Insel Hispaniola. Ich beobachte sie aus den Augenwinkeln, während ich Teeblätter dosiere.
Es ist schon sonderbar, diese Frau bei mir im Wohnzimmer zu sehen . . . Ich weiß im Grunde nichts über sie, außer dass sie eine gewisse Neigung zur Entwendung von Programmierhandbüchern hat. Sie scheint harmlos mit ihren kleinen Brillengläsern und den kurzen Haaren, doch vielleicht ist sie eine ausgebrochene, gemeingefährliche Verbrecherin. Der Kleinkriminalität überdrüssig, hat sie sechs Banken nacheinander ausgeräumt. Und möglicherweise trägt sie in ihrem alten Seesack eine Knarre so lang wie eine Harpune mit sich herum und bündelweise blutbeflecktes Geld.
Fast höre ich die Schießereien wiederhallen, als ein schrilles Pfeifen meine mythomanische Fantasterei unterbricht. Ich schüttele den Kopf, nehme den Wasserkessel vom Herd und recke den Hals in Richtung Wohnzimmer. „Die Reiseführer stehen in dem kleinen Bücherschrank hinter dir.“
Als ich aus der Küche komme, mit einer Kanne dampfenden Oolongs in der Hand, ist Joyce gerade dabei, meine Reiseführer unter die Lupe zu nehmen.
„Du bist viel gereist“, sagt sie, ohne die Augen vom Bücherschrank zu nehmen.
„Ich? Hab noch nie einen Schritt aus Montréal heraus gemacht. Meine weiteste Reise war die, aus Châteauguay wegzugehen.“
„Warum dann so viele Reiseführer?“
„Meine Mutter hat sie gesammelt. Nach ihrem Tod habe ich die Sammlung weitergeführt.“
„Ist deine Mutter viel gereist?“
„Nein. Was übrigens ziemlich seltsam ist, da sie in einem Reisebüro gearbeitet hat. Sie hätte umsonst um die ganze Welt reisen können, aber sie hat den Sommer lieber im Hof verbracht, mit den Füßen im Plastikplanschbecken und mit ganzen Stapeln von Büchern. Ich glaube, sie hat im Endeffekt die Reiseführer mehr gemocht als das Reisen selber.“
Ich gieße den Tee in eine Wolke Dampf. Joyce nimmt eine Tasse in die Hände, um sich daran aufzuwärmen, und setzt sich im Schneidersitz auf die
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