Die 10. Symphonie
widerwärtiger, perverser Krüppel, der meint, nur weil er ein großer Komponist ist, könne er sich alles erlauben. Aber da irren Sie sich. Meine Frau, Gott hab sie selig, und ich haben unsere Tochter nicht in die Welt gesetzt, damit sie eine Mischung aus schlechtbezahlter Krankenschwester und Kurtisane im Dienste eines verrückten, tauben und dreckigen Alten wird, wie Sie es sind!« Wieder wollte sich Beethoven umdrehen, doch de Casas schüttelte ihn aufs Neue - und diesmal verlor der Musiker wirklich das Gleichgewicht und fiel zu Boden. De Casas machte keine Anstalten, ihm aufzuhelfen, im Gegenteil, er verhöhnte ihn noch: »Ich bin nicht gekommen, um Sie auf dem Hintern zu sehen, Herr Beethoven, sondern auf Knien! Auf Knien vor mir und bettelnd, dass ich meine Kontakte im Palast nicht verwende, um Sie aus Wien zu vertreiben und Sie vor allen B ürgern der Stadt lächerlich zu machen.«
Tief gedem ütigt sah Beethoven auf. Er blieb am Boden liegen, denn er hielt es für klüger, angesichts der Kraft, die dieser Rasende entwickelte, im Moment keinen Versuch zu unternehmen, aufzustehen. Er fragte sich, wo Beatriz wohl war, in welchem dunklen Schrank oder Winkel sie sich verbarg, dass ihr Vater sie bei seiner Razzia nicht gefunden hatte.
Don Leandro schien zufrieden zu sein, nun, da Beethoven ganz unten war, und es wirkte so, als ob er die Strafexpedition beenden w ürde.
In einem gem äßigteren, doch gerade dadurch vielleicht noch beunruhigenderen Ton sprach er nun jedes Wort überdeutlich, damit der andere ihm von den Lippen ablesen konnte: »Beethoven, ich weiß nicht, wo meine Tochter gerade ist - wobei... Ich könnte mir vorstellen, so schamlos, wie Sie sie ausnutzen, dass sie nun auch noch Botengänge für Sie erledigt. Ich wette, sie ist auf dem Markt und kauft für Sie ein. Sie verstehen immer noch nicht, was ich sage? Also gut, ich schreibe es Ihnen auf.« Don Leandro griff nach einem der Konversationshefte, die auf Beethovens Arbeitstisch lagen, und schrieb: »Wenn Sie sich jemals wieder mit meiner Tochter treffen, bringe ich Sie um.« Und dann warf er das Heft dem Komponisten ins Gesicht, drehte sich um und schlug die Tür mit einer solchen Wucht zu, dass das goldene Plättchen, mit dem das Schloss außen verziert war, sich löste und mit einem leisen metallischen Klirren zu Boden fiel.
Beethoven wartete ein paar Sekunden, bevor er aufstand. Wer wusste schon, ob Don Leandro nicht auf dem Absatz kehrtgemacht hatte, um die T ür aus den Angeln zu heben und ihn erneut anzugreifen? Dann rief er laut nach Beatriz.
Sie kam, gekleidet wie eine Magd, aus dem Dienstbotenbereich der Wohnung.
»Wir sollten uns einige Tage nicht treffen, bis wir einen Ausweg wissen«, keuchte Beethoven. »Es gibt keinen Grund, sich einschüchtern zu lassen. Was kann mein Vater uns schon groß antun?«, schrieb Beatriz unbeeindruckt.
»Aber meine Liebe, dein Vater hat Kontakte im Palast, möglicherweise sogar bis hoch zum Kaiser selbst.« »Ja, und? Wir sind zwei freie Bürger, wir können tun und lassen, was wir wollen.«
»Ganz so einfach ist es nicht. Metternichs Polizei hat mich bisher in Ruhe gelassen, weil man mich für einen alten, vollkommen harmlosen Spinner hält. Aber wenn sie mir etwas anhängen wollen, finden sie Dutzende Zeugen, die mich unzählige Male in Gasthäusern und Schenken gegen die Regierung und den Kaiser haben wettern hören.« »Wer würde es wagen, dich ins Gefängnis zu werfen? Du bist eine Institution in der Stadt.«
»Ich war es vor einigen Jahren. Aber mein Stern ist am Sinken.«
Beethoven ging an den Tisch, an dem Beatriz die Takte der zehnten Symphonie ins Reine geschrieben hatte, und begann seine musikalischen Skizzen zu ordnen. Er band sie zusammen und legte sie in das gro ße, rechteckige Heft mit der noch unvollständigen Reinschrift. »Hier«, sagte er zu Beatriz und gab ihr das ganze Material.
»Das Wichtigste ist nun, dass du meine zehnte Symphonie abschreibst. Nimm das alles mit nach Hause. Ich werde versuchen, das Manuskript in ein paar Tagen so unauffällig wie möglich zurückzubekommen.« Das klang für Beatriz nach endgültigem Abschied. »Versprich mir, dass wir uns wiedersehen«, sagte sie mit ungläubig aufgerissenen Augen.
Beethoven gab darauf keine Antwort. Er nahm eine gro ße Gänsefeder von seinem Arbeitstisch, schlug die erste Seite der Partitur auf und schrieb in Schönschrift folgende Worte auf Italienisch:
Sinfonia Decima in do minore Op. 139 composta per
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