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Die 10. Symphonie

Die 10. Symphonie

Titel: Die 10. Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Gelinek
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acht Anrufe seiner Freundin entgangen. Gerade wollte er ihre Nummer w ählen, als unmittelbar vor dem Hauseingang ein roter VW Käfer ein spektakuläres Bremsmanöver hinlegte - wie ein an einem Tatort vorfahrender Polizeiwagen. Heraus sprang Humberto.
    »Wo ist Alicia?«, fragte er besorgt. »Sie hat mich vor einer halben Stunde angerufen, sie stünde allein und ohne Schlüssel auf der Straße.«
    »Habt ihr sie denn nicht abgeholt?«, rief Daniel, kurz davor, in Panik zu geraten.
    »Ich habe eine Nachricht auf deiner Mailbox hinterlassen, dass weder Cristina noch ich sie abholen können.« »Die habe ich nicht gehört! Sie wird mich umbringen!« Auf einmal erblickte Daniel eine weibliche Gestalt auf dem Bürgersteig gegenüber, die auf ihn zukam. Trotz der Dunkelheit brauchte er keine zwei Sekunden, um das lange, lockige Haar seiner Freundin zu erkennen. »O nein, wo kommst du denn jetzt her?«, seufzte Daniel zerknirscht, als Alicia die Straße überquert hatte, und versuchte, ihr mit einer innigen Umarmung den Wind aus den Segeln zu nehmen.
    »Ich war auf der Suche nach einer Telefonzelle. Du ahnst ja nicht, wie oft ich dich heute Abend angerufen habe. Am Ende war mein Akku leer. Was war da los?«, zischte sie und schob ihn brüsk von sich.
    »Es war ein Missverständnis«, vermittelte Humberto. »Daniel dachte, ich würde dich vom Flughafen abholen.« »Wieso lässt du den Koffer hier im Eingang stehen?«, fragte Daniel, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. Er wollte nicht zugeben müssen, dass er die Ankunft seiner Freundin, ja gar ihre Existenz, über mehrere Stunden vergessen hatte.
    »Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich das zentnerschwere Ding auf der Suche nach Wechselgeld acht Häuserblöcke weit hinter mir herziehen sollen? Warum hast du mich nicht abgeholt?«
    Humberto hielt es pl ötzlich für das Vernünftigste, sich aus dem Staub zu machen.
    »Also gut, ihr beiden«, sagte er und stieg in seinen VW. »Wir telefonieren morgen.«
    Nun, da sie mit Daniel allein war, machte Alicia ihrem Ärger ausgiebig Luft: »Wenn nicht mindestens ein Verwandter von dir gestorben ist, kannst du jede Entschuldigung vergessen.«
    »Niemand ist gestorben, Alicia. Ich wurde zu einem sehr wichtigen Konzert eingeladen, da musste ich unbedingt hin. Beethovens zehnte Symphonie ...« Alicia ließ ihn nicht ausreden, sondern unterbrach ihn mit den Worten: »Darüber reden wir später. Das Einzige, was nun für dich von Interesse sein kann, ist etwas tausendmal Wichtigeres als der vermaledeite Beethoven und all seine Symphonien auf einmal.«
    »Ich verstehe nicht. Was in aller Welt könnte wichtiger sein als Beethoven?« »Ich bin schwanger.«

9
    Wien, einen Tag nach dem Konzert
    Jake Malinak, der einzige blinde Touristenf ührer an der Spanischen Hofreitschule und vermutlich in ganz Wien, vermittelte gerade einer seiner Besuchergruppen die wichtigsten Informationen über die Schule: »Diese Reitschule ist die älteste der Welt, 1572 gegründet. Die ersten Pferde waren Andalusier, die besten in ganz Europa. Hier wird die klassische Dressur in ihrer reinsten Form praktiziert - seit der Renaissance hat sie sich kaum verändert.«
    Einer der Touristen unterbrach ihn und fragte: »Verzeihen Sie, stimmt es, dass die Pferde schwarz zur Welt kommen und erst später weiß werden?« Malinak lächelte. Diese Frage schien jeden zu beschäftigen.
    »So ist es, mein Herr. Wer von Ihnen hat den Film Crimson Tide - In tiefster Gefahr gesehen? Das ist der, in dem Gene Hackman und Denzel Washington sich an Bord eines mit nuklearen Waffen beladenen U-Boots in den Haaren liegen.«
    Mehrere Menschen aus der Gruppe hoben die Hand. »Auch wenn ich Sie nicht sehen kann, bin ich sicher, dass sich nun viele melden, immerhin läuft dieser Film ständig im Fernsehen. Nehmen Sie die Hände ruhig herunter, meine Damen und Herren. Sie werden sich daran erin nern, dass Denzel Washington, der schwarz war, als ich ihn noch sehen konnte, Gene Hackman unter die Nase reibt, dass die Lipizzaner zwar wei ß sind, aber schwarz wie die Nacht geboren werden. Es dauert acht lange Jahre, bis ihr Fell jenes Grauweiß der Pferde hier an unserer Schule hat. Um die Wahrheit zu sagen, werden auch viele als Falbe geboren, oder als Fuchs. Denzel Washington hätte den Kapitän also auch provozieren können, wenn er Indianer gewesen wäre.«
    Der Tourist, der die Frage gestellt hatte, f ühlte sich offenbar schon als Wortführer der Gruppe, denn er schaltete sich

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