Die 10. Symphonie
erneut ein. »Gene Hackman verliert in dem Film auch eine Wette, weil er behauptet, die Lipizzaner stammten aus Portugal.«
»Tatsächlich stammen sie nicht einmal aus Spanien, sondern aus Arabien. Die andalusischen Pferde waren ursprünglich Araber. Die Habsburger, die viele Jahre in Spanien herrschten, verliebten sich in diese Tiere und brachten sie nach Wien. Dort kreuzten sie sie mit Karstpferden, einer Rasse, die seit Jahrhunderten für ihre Widerstandsfähigkeit und Robustheit bekannt war. Das kleine Juwel - klein, weil die Widerristhöhe der Lipizzaner im Durchschnitt nur ungefähr 1,60 Meter beträgt - ist also eine Kreuzung aus einem Aristokraten, dem Andalusier, und einem Bauern, dem Karstpferd.«
Eine Japanerin wandte sich kurz ab, um ein paar Fotos des gro ßen Vorführsaals zu schießen. Das Geräusch beim Öffnen der Blende entging Malinak nicht. »Bedaure, aber fotografieren und filmen ist hier nicht erlaubt. Ich erkläre Ihnen jedoch gerne alles, was Sie über diesen Ort wissen wollen. Wir nennen diese Halle Winterreitschule , weil sie vollkommen überdacht ist. Bis 1920 war dies eine private Reitbahn f ür den Wiener Adel. Erst danach gab es öffentliche Vorstellungen. Abgesehen von den Reitvorführungen, fanden unter dieser kunstvoll verzierten Decke große historische Ereignisse statt: Die wichtigsten Werke sowohl Georg Friedrich Händels als auch Beethovens wurden hier uraufgeführt.« »Beethoven? Heißt es nicht, er habe Pferde gehasst?«, mischte sich ein etwa fünfundfünfzigjähriger, stattlicher und sympathisch wirkender Mann ein, der sich unbemerkt der Touristengruppe angeschlossen hatte. »Hallo, Otto«, wandte sich Malinak mit großer Vertrautheit an ihn. »Darf ich vorstellen? Herr Otto Werner, der stellvertretende Direktor und Chefveterinär der Schule. Er seinerseits hasst Beethoven, denn im Gegensatz zu dem Komponisten liebt er diese Tiere. Was verschafft uns die Ehre, Otto?«
Doktor Werner nahm den Blinden am Arm und f ührte ihn weg von der Gruppe, um ungestört mit ihm reden zu können. »Um wie viel Uhr machst du Schluss?« »Ich habe noch eine Gruppe um eins. Danach bin ich hier schon fertig. Ich hatte allerdings vor, nach dem Essen nach Baden zu fahren. Alfred Brendel spielt im Haus der Neunten in der Rathausgasse. Wieso fragst du?« »Ich würde gerne mit dir über eine Angelegenheit sprechen, die mir Sorgen bereitet.«
»Wenn es sehr dringend ist, kann ich auch auf das Konzert verzichten.«
»Nein, das brauchst du nicht. Es ist nur so, dass ich morgen nach Piber zu einem kranken Hengst fahren muss, die andere Sache aber auch nicht zu lange aufschieben will.« »Kannst du mir nicht schon einmal andeuten, worum es geht?«
»Ich würde das lieber in Ruhe in meinem Büro mit dir besprechen, nicht hier vor den Touristen. Wir machen es so: Ich erkundige mich über deinen Arbeitsplan und komme zu dir, wenn ich ganz sicher weiß, dass du gerade nicht mit einer Gruppe beschäftigt bist.«
Malinak h örte, wie Doktor Werner fortging, wandte sich daraufhin wieder an die Besuchergruppe und fragte: »Wo waren wir stehengeblieben?«
»Sie sagten, dass einige von Beethovens Werken hier uraufgeführt wurden.«
»Ja, richtig, Beethoven. Wussten Sie, dass er 1814, schon fast vollständig taub, in diesem Saal ein gigantisches Konzert mit über siebenhundert Musikern dirigierte?«
10
Ja, bitte? « »Daniel Paniagua, ich versuche schon seit geraumer Zeit, dich zu erreichen. Warum gehst du nicht ans Telefon?«
Daniel war noch ganz schlaftrunken, dennoch erkannte er Durán s Stimme sofort. Er konnte sich nicht erinnern, wann ihn der Direktor des Instituts das letzte Mal zu Hause angerufen hatte. Daher schrillten bei ihm sämtliche Alarmglocken in unheilvollem Unisono. »Alicia und ich haben gestern Abend noch sehr lange geredet. Ich bin erst um drei Uhr ins Bett gegangen. Wie spät ist es, und weshalb rufst du an?«
»Zehn Uhr morgens. Du hast wahrscheinlich noch nicht Radio gehört, oder? Es kam gerade in den Nachrichten. Heute Nacht wurde dieser Musiker ermordet.« »Wer? Welcher Musiker?«, fragte Daniel so leise wie möglich, um Alicia nicht aufzuwecken, doch die schlief so tief, dass es fast den Anschein erweckte, als läge sie im Koma. »Welcher Musiker wohl? Thomas!« »Du machst Witze, oder? Vor ein paar Stunden habe ich doch noch mit ihm gesprochen!« »Worüber habt ihr gesprochen? Und wann?« »Nach dem Konzert. Vor wenigen Stunden.« »Nun, er wurde umgebracht. Oder, wie du
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