Die 10. Symphonie
Orchester zu.
Doch die Musik begann nicht.
Thomas hob mehrmals die Arme, hielt sie einige Sekunden in der Luft und senkte sie dann wieder, ohne sich dazu durchringen zu k önnen, den Einsatz für den ersten Takt tatsächlich zu geben. Daniel dachte schon, der Musiker fühle sich plötzlich unpässlich und das Konzert müsse abgesagt werden. Oder hinderte ein Anfall von Lampenfieber Thomas daran, anzufangen? Manche Künstler überfällt eine derartige Nervosität, wenn sie einem Publikum gegenübertreten, dass sie alles tun würden, um diesem schwierigen Moment aus dem Weg zu gehen. Daniel war kurz davor, Durán anzurufen und ihm live zu berichten, was gerade vor sich ging. Nach zwei oder drei gescheiterten Versuchen, die eine dramatische, fast musikalische Stille erzeugten, gab Thomas jedoch endlich den Einsatz, und die ersten Takte des ersten Satzes von Beethovens Zehnter erklangen.
Der Anfang erinnerte Daniel an den unvergesslichen Beginn der f ünften Symphonie, nur dass das Schicksal diesmal nicht mit vier, sondern mit zwei Akkorden an die Tür klopfte. Sie wiederholten sich dreimal: TAMTAM, TAMTAM, TAMTAM. Dann geleitete ein zartes, weibliches Thema in den Bläsern die Zuhörer in Beethovens Welt der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, die der Komponist schon so oft in anderen Werken heraufbeschworen hatte. Für Daniel klang in diesem Andante unwillkürlich John Lennons Imagine an. Fast fünf Minuten lang wiegte die Musik das Publikum in einer Stimmung großer Innigkeit und Zartheit und erschütterte es dann attacca, übergangslos, mit aller Vehemenz und Wildheit, die ein Allegro agitato Beethovens entfalten kann. Mit diesem abrupten Wechsel schien der Komponist sagen zu wollen: »Ich habe euch die Welt gezeigt, wie sie sein könnte. Nun seht ihr, wie sie wirklich ist - grausam, voller Neid, Tod, Zerstörung, Einsamkeit und Tragik.« Dies war Beethoven pur. Nicht einmal die geübten Ohren Paniaguas konnten die Originalfragmente von dem unterscheiden, was Thomas als Übergänge zwischen den verschiedenen Episoden komponiert hatte.
Als die Musik endete und mit st ürmischem Beifall honoriert wurde - nicht, wie Daniel zuvor befürchtet hatte, mit Pfiffen und Buhrufen -, hatte er feuchte Augen und einen Kloß im Hals. Wenn ihn in diesem Augenblick jemand nach der Uhrzeit gefragt hätte, wäre es ihm unmöglich gewesen, die Frage zu beantworten.
Daniel war von der Erhabenheit dieser Musik so bewegt, dass er einige Minuten lang nicht von seinem Sitz aufstehen konnte. Er verharrte so unbeweglich, dass einer der beiden Bediensteten, die mit dem Einsammeln der St ühle besch äftigt waren, sich ihm besorgt näherte und fragte, ob alles in Ordnung sei. Daniel verstand, dass der Mann eigentlich nur feststellen wollte, ob er noch atmete, und beruhigte ihn. In die Welt der Lebenden zurückgekehrt, fragte er nach Thomas' Garderobe. Er wollte nur eines: ihm zu dem Konzert gratulieren.
»Selbst wenn ich Ihnen erklären würde, wie Sie dort hingelangen«, sagte der Bedienstete, »würden Sie sich verirren. Dieses Haus ist sehr, sehr unübersichtlich. Wenn Sie so freundlich wären und mir folgen würden. Ich führe Sie zu dem Zimmer, das Herrn Thomas als Garderobe dient.«
Er hatte nicht übertrieben. Das Haus war ein Labyrinth aus Treppenstücken und Rampen, die so plötzlich hinauf- wie hinabführten, scheinbar willkürlich. Dadurch entstanden viele kleine Anhöhen und Absätze, deren Funktion sich Daniel nicht erklären konnte.
Sein F ührer konnte anscheinend Gedanken lesen, denn unversehens sagte er: »Don Jesus mag es, wenn Häuser einen sichtbaren Rhythmus haben.«
Nach einigen verschlungenen Wegen standen sie endlich vor der T ür der improvisierten Garderobe. Der Bedienstete wollte sich zurückziehen, da er seine Aufgabe erfüllt hatte.
»Warten Sie!«, rief Daniel. »Gehen Sie nicht weg. Wie finde ich denn sonst hinterher wieder heraus?« »Keine Sorge, mein Herr. Ich werde Sie im Auge behalten.«
Er wies auf eine bestimmte Stelle an der Decke des langen Gangs, in dem sie sich befanden. Daniel glaubte, dort das beunruhigende Auge einer Infrarotkamera ausmachen zu k önnen.
Er klopfte zweimal an die T ür. Sie wurde so jäh geöffnet, dass er zurückschrak. Es war, als habe jemand hinter der Tür gestanden und mit der Hand am Türknauf darauf gewartet, dass einer kam. Dieser Jemand war kein anderer als Ronald Thomas.
Der Musiker trug noch den Gehrock aus dem 19. Jahrhundert, den er w ährend des
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