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Die 10. Symphonie

Die 10. Symphonie

Titel: Die 10. Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Gelinek
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Konzertsaals an oder an die Anzahl der verfügbaren Musiker. Genauso wird es heute Abend sein. Bei den Streichern haben wir zum Beispiel nur drei erste und drei zweite Geigen, zwei Bratschen, zwei Celli und drei Kontrabässe. Das ist nicht das, was Beethoven gewünscht hätte. In anderer Hinsicht konnten wir dem Genie jedoch sehr wohl gerecht werden: Alle Instrumente, die heute Abend hier erklingen werden, sind Originale aus der Zeit, oder vielmehr absolut originalgetreue Nachbauten. Das Orchester wird also nicht den Umfang haben, den Beethoven sich vermutlich vorgestellt hat. Aber sein Klang, die Farbe der Musik, k önnte man sagen, wird dem sehr nahekommen, was die Zeitgenossen des Komponisten genießen durften.«
    Die G äste lauschten ihrem Gastgeber in ehrerbietigem Schweigen. Er hatte sie kurzzeitig in das kaiserliche Wien Ende des 18. oder Anfang des 19. Jahrhunderts versetzt. Die Erwartungen konnten höher nicht sein. »Und wenn ihr nun bitte hereinkommen wollt. Wir werden die vom Schicksal auserwählten Zeugen eines epochalen Ereignisses sein: der Welturaufführung des ersten Satzes von Beethovens zehnter Symphonie.« Marañóns letzte Worte gingen unter in dem großen Applaus, der nun aufbrandete. Sogleich erschienen zwei Bedienstete, um die großen Türen des Hauses zu öffnen, und die Gäste strömten hinein.
    »Hurry up, sonst entweicht die kühle Luft«, sagte Thomas, als er sah, dass sich einige noch in dem verzweifelten Versuch, ein allerletztes Glas zu erwischen und schnell zu leeren, im Garten herumdrückten.
    Man mochte es kaum glauben, aber selbst in diesem erlauchten Kreis gab es Reibereien unter einigen Zuschauern, die sich die besten Pl ätze sichern wollten. Einige Herren hatten schon einen über den Durst getrunken und waren kurz davor, im Streit um einen Stuhl, auf dem niemand sitzen wollte, weil sein Bein halb durchgebrochen war, mit Fäusten aufeinander loszugehen. Daniel schämte sich bei Auseinandersetzungen dieser Art immer in Grund und Boden. Er setzte sich ans entgegengesetzte Ende des Salons, m öglichst weit weg von den beiden Streithähnen, die, angefeuert von ihren erbitterten Ehefrauen, nicht aufhörten zu zetern.
    Das Gl ück war auf seiner Seite: Die attraktive junge Frau, die er eben noch im Garten mit den Augen verschlungen hatte, setzte sich neben ihn. Ihr Begleiter war ein kräftiger, glatzköpfiger Mann. Er mochte ein Chauffeur sein oder ein Bodyguard, oder beides. Die Frau duftete nach einem orientalischen Parfüm. Es war der durchdringende, amberähnliche Duft von Diors Poison. Er würde Daniel das ganze Konzert über die Sinne benebeln. Der Kahlkopf und die Frau unterhielten sich angeregt. So bekam Daniel mit, dass die geheimnisvolle Schöne nicht Italienerin, sondern Französin war und ihr Name nicht Silvana, sondern Sophie.
    Der von Marañón hergerichtete Konzertsaal mit Holzfußboden erinnerte tatsächlich an einen jener romantischen Salons aus dem frühen 19. Jahrhundert, in denen Beethoven seine neuen Musikstücke spielen ließ. Die erwähnte, zunächst Napoleon Bonaparte gewidmete Eroica zum Beispiel war im Palast des Fürsten Lobkowitz nicht nur uraufgeführt, sondern auch noch mehrmals in privatem Rahmen gespielt worden. Beethoven nutzte diese Probekonzerte, um ein paar letzte Anpassungen und Veränderungen in der Partitur vorzunehmen, bevor die Symphonie schließlich am 7. April 1805 offiziell vor großem Publikum im Theater an der Wien Premiere hatte. Jesus Marañón hatte auf elektrische Beleuchtung verzichtet und stattdessen, um der Premiere mehr Atmosphäre zu verleihen, entlang der mit Fresken aus dem 19. Jahrhundert dekorierten Wände Dutzende Kerzenleuchter aus jener Zeit aufstellen lassen. Sie gaben dem Ort den An schein einer Filmkulisse. Die Spannung im Saal war hoch. Teils wegen der Wichtigkeit des Werkes, teils, weil zwar die Notenpulte schon aufgebaut waren und einige Instrumente im B ühnenraum lagen, die Musiker aber noch auf sich warten ließen.
    Als das Publikum schon unruhig zu werden begann, traten die Instrumentalisten endlich ein, herausgeputzt mit Per ücke und Livree. Ihr Erscheinen wurde mit großem Beifall begrüßt. Nachdem sie ihre Instrumente gestimmt hatten, trat Ronald Thomas auf. Er hatte sich ebenfalls umgezogen, was offenbar die Verspätung verursacht hatte, und trug nun einen beethovenschen Gehrock aus braunem Samt. Auch ihn empfing ein großer Applaus. Er verbeugte sich vor dem Publikum, wandte sich dann aber rasch dem

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