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Die 10. Symphonie

Die 10. Symphonie

Titel: Die 10. Symphonie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Gelinek
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improvisieren. »Die Takte, von denen dein Vater ausging und die der Beethoven-Forschung wohlbekannt sind, waren keine vollständig entwickelten musikalischen Ideen, sondern bloß Teile eines großen Puzzles, von dem nur Beethoven selbst wusste, wie es zu lösen war. Aus diesen rudimentären Notizen eine Symphonie zu rekonstruieren ist beileibe nicht dasselbe, wie zum Beispiel Turandot von Puccini zu vollenden, eine Oper, der nur noch das Ende fehlte - so dass Franco Alfano sie damals sicher in den Hafen bringen konnte. Weißt du ein wenig Bescheid über die Sonatenhauptsatzform ?«
    »Selbstverständlich weiß ich, was die Sonatenhauptsatzform ist«, knurrte Sophie. »Worauf willst du hinaus?« »Ich stelle mir eine Sonate gerne als ein musikalisches Drama vor: Da sind ein paar Charaktere, die zu Beginn des Stücks eingeführt werden. Diese Charaktere erleben dann bestimmte Dinge, das ist die Durchführung. Und schließlich löst sich in der Reprise alles zum Guten auf. Darf ich?«
    Daniel griff nach dem Bierdeckel, mit dem Sophie herumspielte, und seine Hand streifte fl üchtig die ihre. Dann nahm er einen Kugelschreiber aus seiner Jackentasche und skizzierte folgendes Gefüge:

    »Beethoven konstruierte seine musikalischen Themen, also die Charaktere, aus kleinen Motiven wie diesen Kästchen, die ich hier gezeichnet habe.« »Sieht aus wie Legosteine.«
    »In gewisser Weise sind sie das auch«, stimmte Daniel ihr zu. »Ein Motiv ist ein Melodiefragment mit eigenen Charakteristika, deswegen ist es leicht wiederzuerkennen und ablösbar vom Hauptgerüst, dem Thema, um wechselnd mit anderen Motiven kombiniert zu werden.« »Ich weiß. Das ist die Durchführung . Aber ich sehe immer noch nicht, worauf du hinauswillst.« »All diese Teilchen kann man auf unterschiedliche Weise, ich würde sogar sagen, in unendlicher Zahl, in einer Komposition miteinander kombinieren. Wenn das Legogerüst , das wir hier haben, auseinanderbricht, spricht man von Fragmentierung ; wenn es sich leicht verändert, von Variation , und wenn es auf die dichteste Ausdrucksform reduziert wird, von Komprimierung . Natürlich gibt es viele weitere Techniken, doch diese drei sind die für Beethoven typischsten. Dies ist einer der Faktoren, weshalb ich immer sicherer bin, dass das Allegro der Zehnten vollständig von Beethoven ist. Ich möchte das Andenken deines Vaters nicht verletzen, aber die Entwicklung des Themas ist so phantasievoll ...«
    »Dass sie nicht von ihm stammen kann? Da täuschst du dich. Mein Vater war ein viel besserer Musiker, als die Leute denken.«
    »Ich glaube, es ist dennoch keine Beleidigung, wenn ich sage, dass Ronald Thomas nicht wie Beethoven komponieren konnte. Niemand hat je die Größe seines Genies erreicht, und wahrscheinlich wird auch niemals jemand dahin gelangen.«
    Sophie Luciani schien die Lust verloren zu haben, mit dem Bierdeckel herumzuspielen, und drehte stattdessen langsam eines der Bernsteinarmb änder, die sie am linken Handgelenk trug.
    »Und wofür brauchst du mich, wenn du bereits nach einmaligem Hören zu solchen Schlussfolgerungen gelangt bist? Wofür willst du die Aufnahme des Konzerts haben?« »Gute Frage. Ich gebe dir ein Beispiel: Wenn ich dich jetzt auffordere, die Augen zu schließen und dir eine Person vorzustellen, zum Beispiel den Schauspieler Ed Harris...« »Ed Harris? Wieso ausgerechnet den?« »Weil er in einem Film Beethoven gespielt hat. Aber wenn du Gary Oldman vorziehst...«
    »Schon in Ordnung, Ed Harris. Ja, ich kann sein Gesicht ohne Probleme vor mir sehen. Und jetzt?« »Du musst nicht einmal überlegen, nicht wahr?« »Ja, das stimmt. Sein Gesicht ist unverwechselbar.« »Und du bist vermutlich vollkommen sicher, dieses Gesicht unter einer Million anderer zu erkennen.« »Ja, klar.«
    »Und dennoch: Wenn ich dir mit der Aufforderung, Ed Harris' Gesicht mit Worten zu beschreiben, Stift und Papier in die Hand drücken würde - wetten, das würde dir wesentlich schwerer fallen?« »Ich weiß nicht.«
    »Sei ehrlich. Wenn ich nicht wüsste, wen du beschreibst - könnte ich es nur mit Hilfe deiner Worte erraten?« »Ich glaube nicht. Aber ich bin auch keine Schriftstellerin.«
    »Selbst wenn du eine wärst, glaube ich nicht, dass es funktionieren würde. Alles eine Sache der Gehirnhälften. Wenn ich versuche, Ed Harris' Gesicht mit Worten zu beschrei ben, wird die Hirnaktivit ät von der rechten, bildgesteuerten, auf die linke Gehirnhälfte verlagert, die in Worten denkt, und sie

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